Folgender Text ist 2007 auf Niederländisch erschienen. (Also schon wieder eine Weile her)
„Kijken door gebrandschilderde ramen. Anneke Brassinga in het
Duits”, übers. von Pauline de Bok, in: Filter, Jahrgang 14, Nummer 4,
Dezember 2007, S. 30-38.
Hier das deutsche Manuskript:
Vom Schauen durch gemalte Fensterscheiben
Anneke Brassinga auf Deutsch
Die Frage, die sich mir beim
Übersetzen immer stellt, ist die Frage nach der Empathie. Es ist auch die Frage
nach der Geistes-Verwandtschaft zwischen Autor und seinem Übersetzer: So fragte
ich mich einmal in einem Aufsatz über Wessel te Gussinklo, ob ich als Frau ein
ausgesprochenes Männerbuch wie De opdracht überhaupt übersetzen darf.
Angesichts der Gedichte Anneke Brassingas erhebt sich die Frage nach dem
Geschlecht deutlich nicht. Gemeinsamkeiten gibt es auf oberflächlicher Basis
einige wenige, so zum Beispiel die, dass wir beide Übersetzerinnen sind, oder
jene, eher zufällig entdeckte, dass Brassinga wie ich als Kind immer ein Junge
sein wollte. Doch die Unterschiede sind offensichtlicher: Brassinga schreibt
und ich übersetze sie, Brassinga schreibt Gedichte und ich übersetzte solche
bisher nie, ja, ich muss es gestehen, ich las sie nicht einmal. Zunächst war
mir pubertierender Weltschmerz, wie er sich in Mitschülergedichten äußerte,
verhasst, obwohl ich natürlich selbst an jenem litt, und Dichtung hat für mich
seither immer etwas von diesem pickligen, aber süßen Weh behalten. Später
strahlten Poeten und Poesieliebhaber für mich einen haut gout aus und
reklamierten einen Aristokratismus für sich, der mir als erklärtem Humanisten
und Demokraten immer verdächtig war. Nichtgedichteleser aber sind die Paria der
Gelehrtenrepublik: Goethe nennt sie ‚verdrießliche Philister’, die vom
Markttreiben blöde in die „heilige Kapelle“ der Poesie glotzen und dort nur
Dunkelheit und Düsternis sehen. Enzensberger ist weniger human, für ihn sind
Leute, die keine Gedichte lesen „eine kochende lache/ aus bockbier und blut!
[...] beschissen von blei […] sprachlose fresser“ mit „räudigen[,] hirn“ […] verräter[…] schmierige
adler“[1]
Doch nicht nur Biographisches trägt zu meiner bislanglebenslangen
Distanzhaltung zur Poesie bei. Im Zuge der intensiveren Beschäftigung mit der
Literatur waren es die grundlegenden strukturellen Unterschiede zwischen
prosaischen Sprachkunstwerken und lyrischen, die mir den Zugang verwehrten.
Während Romane dem Leser eine Weite gewähren – sei es die einer Steppe, einer
Stadtlandschaft oder einer Seele - ,
welche man mit eignem Leben füllen kann, kriegt man vom Dichter – so kam es mir
vor – in Form von einer erdrückenden Fülle von Tropen, Allegorien, Metaphern, Gleichnissen
etc. ein Puzzle vorgelegt, dessen Einzelteile nur auf eine ganz bestimmte Weise
zusammengesetzt werden können. Der Dichter ist ein Gefängniswärter, der mir in
der winzigen Zelle eines Gedichts die Freiheit nimmt: Kaum hat man diesen
poetischen Raum betreten, schon ist man an seinem Ende angelangt. Man geht zum
Ausgangspunkt zurück, liest das Gedicht zu Ende, fängt wieder von vorn an – und
man kommt sich bald vor wie ein hospitalisierender Eisbär im Gehege. Für die
Prosa dagegen gilt das pantha rei, beim Lesen wie beim Übersetzen. Prosa ist
der Alltag des Übersetzens, wodurch das
Übersetzen von Poesie dann wohl die Sonntage sein müssen. Die prosaischen
Werktage des Übersetzers – das ist – geben wir s doch zu – das Übersetzen meist
schlechter, ich präzisiere schlechtgeschriebener Texte. – Und hier muss ich
mich einmal kurz ausblenden und eine Anmerkung dazwischenfügen, die sich ganz
besonders an die Übersetzungswissenschaftler richtet: Übersetzungstheorie
handelt immer vom Übersetzen guter Literatur, wie Übersetzerpreise auch immer
an Übersetzungen guter Literatur gehen. Ein Großteil aller Übersetzungen sind
aber, wie gesagt, Übersetzungen von „schlechter Literatur“. Sollte man nicht
mal einen Kongress, einen Workshop eben dieser Mühsal des Übersetzens zu
widmen, die, wenn die Poesie die Sonntage ausmachen, wohl als die Montage des
Übersetzens zu betrachten sind? Solch ein workshop wäre von großem Nutzen, denn
jeder weiß, dass es viel schwieriger ist, ein schlechtes Buch gut zu übersetzen
als ein gutes gut. Man könnte sich endlich mal laut austauschen über etwas,
worüber man sonst nur mauschelt.
Doch ich
blende mich wieder ein. Das Prosaübersetzen ist also ein horizontales
Übersetzen, eines an der Oberfläche entlang, deren Vertiefung Textdurchgang nach
Textdurchgang erfolgt, mit der Beständigkeit, mit der ein Bach sich sein Bett
gräbt. Dieses letztere Bild gilt wenigstens für mich, der ich ein
Immer-wieder-Überarbeiter bin im Gegensatz zu dem „Einmal, aber dann
richtig“-Übersetzer. Bei der Prosa muss man in die Breite denken,
Übersetzungsprobleme lassen sich oft durch die direkte, kohärenzenbildende
Nachbarschaft von Worten lösen und selbstverständlich bisweilen auch durch den
bloßen Fortgang der Handlung. Aufgrund der Masse an Stoff kann man vereinzelt
verstohlen über ein Problem hinwegschraffieren, und wenn man Glück hat, liest
ein übelwollender, schlechtgelaunter Rezensent drüber weg.
Im Gegensatz
zur Prosa wird die Annäherungshaltung an die Poesie nicht durch Oberfläche und
die Horizontalität bestimmt, sondern – schon bedingt durch die Kürze des
Mediums – von der Vertikalität und damit von der Tiefe. Dies scheint auch
Gaston Bachelard so empfunden zu haben, denn er sagt: „In jedem wirklichen
Dichter kann man Elemente einer angehaltenen Zeit finden, einer Zeit, die sich
der Meßbarkeit entzieht, einer Zeit, die wir vertikal nennen werden, um sie von
der geläufigen Zeit zu unterscheiden, die horizontal mit dem Wasser des
Flußlaufs, mit dem wehenden Wind dahinströmt.“[2]
Abgesehen von der Enttäuschung nach diesem Zitatfund, die das Ergebnis meines
persönlichen Paragones nun wenig originell erscheinen ließ, war ich
überrascht von der Übereinstimmung der Wahrnehmungen, wodurch etwas Hoffnung
aufkeimte, ich könnte mich dem Wesen der Poesie wenigstens intellektuell
nähern. Die geläufige Prosa, bei der die Worte sich gegenseitig unterhaken und
dschunkend schunkelnd sich einen schönen Fluss machen, hat ein derart
unvergleichlich schlechteres Ansehen als die Poesie, die ontologisch,
philosophisch, mental, emotional oder wie auch immer eben in die Tiefe führt.
Klagen wir also mit Johann Jakob Wilhelm Heinse (1746-1803): „hier ists noch immer
finster auf der Tiefe; Abgrund,
wir versinken, und Abgrund! Ewigkeiten! Ewigkeiten! Kein Untertaucher, nicht
die berühmtesten der Schulen von Syme
vermochten zu entdecken.“ (Das ist, ich möchte es doch kurz erwähnen, in Prosa
geschrieben, nicht im Flattersatz.) Zum uns allen wohl unbekannten Ort Syme
erklärt er in einer Fußnote: „Syme ist das Vaterland der Untertaucher in
der Levante, eine kleine Insel mit einer Stadt bey Rhodi, dem großen Magazin
der Türkischen Seemacht. Niemand erhält das Bürgerrecht, ohne vorher Beweise
seiner Geschicklichkeit im Untertauchen gegeben zu haben. Hernach werden sie in
die Häfen weit und breit darum verschrieben, und untertauchen. Gleichsam
Akademien und Hallen von Metaphysikern; nur daß sie bey ihrer auch gefährlichen
Kunst glücklicher sind, und öfter verlornes ergründen und festpacken, als Plato und Leibnitz.“(Ardinghello,
IV, S. 334) Die Dichter sind also, wenn wir die Jahrhunderte und die Bilder nun
zusammenknoten, Philosophen, ja mehr noch glückliche Philosophen einer
utopischen Gesellschaft. Müssen also diejenigen, die sie lesen und
übersetzen, es ihnen nachtun? Nicht schwimmen, sondern die Luft anhalten und
untertauchen?
Wie aber
genau? Der Seufzer aus einem unserer Gedichte scheint, auch wenn es sich um
eine andere Kopfübertätigkeit handelt, hier wirklich zupaß zu sein: „O, o krom
te moeten gaan/ bij alle goten, dorstend, grondelend naar/ van al die morse
eindjes het begin“ [uit: bukshag] Es ist, als lägen die Worte in einem Gedicht
in stetigem Streit, rückten sich statt auf die Pelle von einander weg und
kümmerten sich nicht um den Abgrund, der sich zwischen ihnen auftut. So wie bei
einer weiteren Beispielzeile: „Prei, sterren, zonde, viooltjes of moord“ [uit:
Pascal bezoekt Musée Cluny]. Es ist, als verrätselte ein Wort das andere
böswillig nur. Man kann das zwar übersetzen, aber man hätte es doch auch gern
verstanden. Poesie erscheint mir immer wieder sinndestruierend statt
sinnschaffend, Zäsuren, Zeilensprünge, Zeugmata, Zwiste nähern den Zweifel
nicht nur am Trugschlussvermögen des Dichters, sondern gleich an dem des
Großgedicht- und Gesamtschöpfers dessen, mit dem wir uns tagtäglich herumplagen
müssen. Manche nennen das ein Charakteristikum der Postmoderne, für mich ist es
– ich meine meine Ansichten über das mangelnde Trugschlussvermögen des Dichters
– ein Merkmal aller Poesie schlechthin. Und die einzigen Mittel, die – so sehe
ich das wenigstens - dagegen helfen, sind Hoffnungsfähigkeit, kreatürlicher
Übermut und Konzentrationsvermögen auf den Punkt – ja, und natürlich das
Luftanhalten, bis nah ans Ersticken. Ein Gedicht, solange es kein
Heldengedicht, keine Epopoe o.ä. ist, ist die im Bild gemordete Bewegung, hier
herrscht stasis, keine dynamis. Und genau das macht einen
eingefleischten Prosaübersetzer beim Gedichteübersetzen rasend. Dieses auf der Stelle treten. Dieses
Nicht-vorwärts-Kommen. Dieses Grübeln. Grübeln. Und Grübeln. Und dann soll man
dem Gedicht diesen Hirnkrampf nachher nicht mehr ansehen! Und er wächst. Was
wächst? Der Hass auf den Autor, und die stetige Frage, warum dieser nicht
einfach Bäcker geworden ist. Brassinga durchlitt als Übersetzerin ähnliche
Frustrationszustände und erstellt einen „Spannungsbogen“ für das Übersetzen, in
dem die verschiedenen Stadien des Verhältnisses zwischen Autor und zu
übersetzendem Werk ihrer Erfahrung nach folgendermaßen ablaufen:
1)
verrukking en overmoed
2)
een aansluipend, al ietwat ontnuchterend besef van de
complicaties
3)
het stroperige gevoel, verzwolgen te zijn door het
karwei en de tekst die maar voortwoekert; een groeiende aversie tegen de
auteur, die expres, lijkt het, zoveel mogelijk vertaalproblemen in zijn boek
heeft gestopt
4)
explosieve woede over je eigen onvermogen
5)
een gestaag toenemende, lichtelijk koortsachtig,
opgetogen energie.
6)
en een niet meerkunnen ophouden met het verfijnen van
het tekstweefsel.[3]
Irgendwie scheint es jetzt wieder
an der Zeit, die Unterschiede zwischen Brassinga und mir zu betonen, denn ich
kann bei mir keinesfalls eine chronologische Abfolge der Stadien ausmachen,
vielmehr sind stets fast alle gleichzeitig anwesend, 1 b) und 4 aber ständig.
II.
Poesie
hat – für einen Prosaisten wie mich – weniger mit Literatur zu tun als mit
bildender Kunst. Das Lesen eines Gedichtes ist durchaus vergleichbar mit dem
Betrachten eines Bildes. Man steht davor, kneift die Augen zusammen, liest den
Titel, tritt einen Schritt zurück, schätzt das eine, würdigt das andere Detail,
Farbe, Form, Klang, alles ganz hübsch, aber ehrlich gesagt – ganz verstehen tut
man es nicht. Das Gedicht als Bild, damit meine ich übrigens nicht nur jenes
optische Bild der Phantasmagorie, die hinter dem Gedicht sich verbergende Idee,
sondern auch das Bild von Klang, Silben und Vokalen, Symmetrien, Reihen,
Wiederholungen, Kontraste usw. Ja, sogar der Einwand, es gebe doch die
Lautgedichte, kann entkräftet werden mit der Ansicht, dass zu jedem lautlichen Eindruck auch ein
optischer gehöre. Wenn eine Gedichtzeile Ding-dong heißt, dann stellt man sich
unweigerlich die dazugehörige hin und her schwingende Glocke vor. Und
schließlich haben sogar Vokale eine Farbe, wozu mal nicht einmal ein
Synästhetiker zu sein braucht.
Kein Geringerer als Goethe behauptete zudem: „Gedichte
sind gemalte Fensterscheiben“.[4] Das von alters her gültige Kürzel für diesen
Kurzschluss, Gedichte seien Bilder, ist das ut-pictura-poesis im 351. Vers von Horazens Ars
poetica. Ich habe mich schon früher einmal über die Funktion des
ut-pictura-poesis beim Übersetzen ausgelassen, aber dort ging es um die Prosa,
und ich forderte mit diesem Syntagma das „sinnliche“ Übersetzen allgemein. Hier
aber geht es mir konkret um die geistige Verbildlichung. Das ut-pictura-poesis
besagt, dass wie die Malerei die Dichtung sei, was Simonides paraphrasiert,
indem er behauptet, „die Malerei [sei]
eine stumme Poesie, und die Poesie eine redende Malerei“.[5] Horaz wollte damit die Ähnlichkeiten der Künste
betonen, Dichtungstheoretiker wie Bodmer und Breitinger machten daraus ein
Programm, was allerdings fatale Ergebnisse zeitigte. Im 18. Jahrhundert
dichtete der Arzt und Naturwissenschaftler Albrecht von Haller sein berühmtes
Gedicht „Die Alpen“.
Hier zeigt ein steiler Berg die Mauer-gleichen
Spitzen,/ Ein Wald-Strom eilt hindurch und stürzet Fall auf Fall./ Der dick
beschäumte Fluß dringt durch der Felsen Ritzen/ Und schießt mit gäher Kraft
weit über ihren Wall./ Das dünne Wasser teilt des tiefen Falles Eile,/ In der
verdickten Luft schwebt ein bewegtes Grau,/ Ein Regenbogen strahlt durch die
zerstäubten Teile/ Und das entfernte Tal trinkt ein beständigs Tau./ Ein
Wandrer sieht erstaunt im Himmel Ströme fließen,/ Die aus den Wolken fliehn und
sich in Wolken gießen. [Albrecht von Haller: Die Alpen, (Reclam, S. 16, vs.
351ff.)]
Der Anschaulichkeit lässt dieses Gedicht keine Lücke
offen, – aber so wollte man schon
im Laufe des 18. Jahrhundert nicht mehr dichten. Das Ende des Liedes ist, dass
man als Leser heutiger Gedichte das Gefühl hat, Gedichte bestehen
ausschließlich aus Lücken. Und doch: Beide Dichtarten verfolgen denselben
Zweck, denn Haller moralisiert im Anschluss an die obige Passage: „Doch wer den edlern Sinn, den Kunst und Weisheit
schärfen,/ Durchs weite Reich der Welt empor zur Wahrheit schwingt,/ Der wird
an keinen Ort gelehrte Blicke werfen,/ Wo nicht ein Wunder ihn zum Stehn und
Forschen zwingt, [...]“ Zu Zeiten, wo Theologie, Ontologie und die
Naturwissenschaft für einen kurzen Moment noch eins sein konnten, wir sind in
der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, pflegte man den Trugschluss, die
Totalität, wie sie hier durch die Beschreibung jedes Details zutage tritt,
könnte erreicht, begriffen, reproduziert werden – und mit diesem ein einziger
Sinn des Ganzen. Mit diesem Sinn aber ist in den Folgejahren auch die
strukturelle Kohärenz abhanden gekommen. Das Wundern, Stehn und Forschen aber
bleiben für den Aufmerksamen weiterhin Zweck, sie sind das, was Brassingas
Poesie im Wesen ausmacht. Auch ihre Poesie ist „transformatie […] van
informatie“,[6] ich würde sagen mit Hilfe von Sehhilfen, sei’s das
Mikroskop oder das Fernglas oder der Zoom. Brassinga dichtete übrigens
ebenfalls ein Gedicht mit dem Haller-Titel, allerdings in der Einzahl: „Alp“
De koe is groeiensmoe
zij loeit zo droef
op de veranda,
de koe is moe
zij draagt er twee.
De boer slaat flank, hij roemt haar
boezeroen van vlees en wimpers
Donsoor trilt, neus snurkt roze
rauw, zij weent en roept
teloor in `t stille dal.
Het is niet groen, `t is wit.[7]
Während Haller also noch von
einer gottgegebenen Ordnung ausgehen konnte, nimmt einem Dichter heute das
keiner mehr ab. Das Tal ist weiß, eben nicht grün, wie man erwartet, und man
erwartet wohl auch kaum eine Kuh auf einer Veranda, geschweige denn – eine
Interpretation, die ich gar nicht zu Ende denken mag – eine Kuh mit zwei Eutern.
Modernes Dichten ist, nach der Definition Brassingas, die Störung aller
Ordnung, eine „ademende ordeverstoring“, die im Idealfall dem Tod trotzt.[8]
Was aber dem Leser nur ein interpretatorisches Signal ist, daran beißt sich der
Übersetzer die Zähne aus, eine gestörte Ordnung zu übersetzen kann einen
verdammt mutlos machen.
III.
Eigentlich ist solches Dichten,
das die Literaturwissenschaft ein modernes-postmodernes-poststrukturalistisches
Dichten nennt, bereits eingeleitet
worden durch die schleichende Aufhebung der Rhetorik und ihrer Gesetze im 18.
Jahrhundert als Folge des rasant um sich greifenden Skeptizismus. Doch hat die
von rhetorischen Restriktionen befreite Poetik auch heute noch zum Wesen der
Poesie einiges zu sagen und kann uns bei ihrer Ausübung behilflich sein. Des
Aristoteles' poiein (Rhetorik 1411b
24-31) wird mit „anschaulich machen“ übersetzt und fordert von der Poesie als
eidolopoiein, dem Hervorbringen (poiein) eines Bildes (eidolon), die
Vorstellung vor dem Inneren Auge. [Aristoteles: De anima III. 3 428a 15-20).
Vielleicht müsste man den griechischen Begriff heute besser mit geistiger
Holographie übersetzen. Das Ziel jedenfalls ist es, den Hörer zum Betrachter zu
machen, und zwar mit Hilfe der enargeia, die tunlichst nicht mit energeia zu
verwechseln ist. Die enargeia ist die Anschaulichkeit, die Klarheit und
Deutlichkeit, sie zielt darauf, das Wort mit der Sache wieder zu vereinen.
Diese Identität ist zwar für die Dichter der modernen Zeit nicht mehr
einzuholen, aber sie kann, und dies ist der Zweck des Ganzen hier, Aufmunterung
für den stetigstrebenden Übersetzer sein. Diese enargeia, für den Übersetzer
reklamiert, fordert nicht, vertalen wat er staat, sondern vertalen
wat er geschilderd is.
Wenn Brassinga
als das Verfahren ihrer Dichtung nennt, „mijn eigen in de geheugenruimte
rondwarende beelden onder te brengen in taal“,[9] dann paraphrasiert sie das genau dieses
aristotelische Verfahren. Das bedeutet für den Übersetzer, diese Prozedur
rückgängig zu machen und von der Sprache über die Bilder in den Gedächtnisraum
des Dichters zu steigen – da wird mir jetzt allerdings doch etwas mulmig
zumute. Ich habe in Anneke Brassingas Schädelraum nichts zu suchen. […] Man
soll, so schreibt Brassinga irgendwo, als Übersetzer sich den Autor zu eigen
machen, alles lesen, was er geschrieben hat etc. Das hieße rein theoretisch,
sich seine Biographie zueigen machen, sich einzuleben, Schlüsse zu ziehen,
Kausalitäten zu knüpfen, Küchenpsychologie zu treiben. Sie mag ja recht haben,
aber irgendwie verbietet mir das Anstand und Etikette. Dann könnte, ja müsste
ich über das „beschädigte Leben“[10]
der Autorin reflektieren, auch über das von Oscar van den Boogaard, über Wessel
te Gussinklo. Nein, das ziemt sich nicht. Gibt s einen anderen Weg der
Identifikation? Meiner oben ausgeführten Ansicht nach ja: Vielleicht muss ich
nicht zum Nacherleber werden, um zu glauben, Gedichte übersetzen zu können,
vielleicht reicht es ja, obwohl dies auch schon sehr viel verlangt ist, zum
Nachschauer zu werden. Doch setzt dies den Übersetzer wieder vor ungeahnte
Schwierigkeiten. Denn einem Gedicht ein einziges Bild zugrunde zu legen, ist
genau jenes Verhalten, das Poesie-Anfänger, Kinder, Naive, Konservative,
Rationalisten, Faschisten und Totalitaristen prägt, der Glaube an die Referentialität
und Sinngegebenheit von Kunst.
Und trotz
dieser Einsicht, muss ich das Bild, welches, wie ich glaube, das Gedicht darzustellen
beabsichtigt, vor mir sehen können – und wenn mir dies nicht gelingt, dann
scheitert die Übersetzung. So graut mir vor der Übersetzung des Gedichtes
„Heidevreugd“, oder man nehme die erste Gedichtzeile von „Cellosuite BWV 1011 – Sarabande :
„Zoals een arm mens watert in zijn hof over de netels/ opdat hun brandend loof
verkwijnt zo ist dit neuriën/ zengend“ Ich habe die Sarabande rauf und
runter gehört, aber ich seh den pinkelnden Menschen nicht vor mir. Liegt es
daran, dass es hier um eine doppelte Verbildlichung handelt, die erste, die mit
Hilfe der Musik von der Wirklichkeit abstrahiert, und die zweite, die diese mittelbare
Wirklichkeit dann verschriftlicht und dabei nochmals verbildlicht? Das Ergebnis
ist dann ein nicht ganz deckungsgleiches Doppelbild, ein Schielen also. Dagegen
habe ich keine Schwierigkeiten, mir einen schlittschuhfahrenden Goldregen
vorzustellen, ja, es gelingt mir sogar, keinen Goldregen mir
vorzustellen.
Eine meiner
Lieblingstheorien, die besagt, dass die Bildung des Individuums ein
phylogenetischem Reflex auf die ontogenetische Kulturentwicklung aller Völker
ist, bietet mir als Lösung an, die Faktizität von Fragmentarität,
Nicht-Kausalität und Nicht-Linearität einfach stoisch hinzunehmen. Nun gut,
dann konzentriere ich mich auf die Einzelbilder wie z.B. folgendes: „Vanaf het avondstrand is goed te zien hoe
vlug/ je mindert – zo ijlings als het licht// je blote rug verlaat.”[11]. Ich ergötze mich also an diesen zwei
Zeilen des Gedichts und hoffe, dass sich so manche Einzelbilder dann
doch zu einer Art Gesamtbild addieren
lassen - und wenn nicht, dann auch gut. Als Übersetzer fuchtelt man also heftig
mit Pinsel und Palette, mit Farben, Ölen und Firnissen, bosselt, schraffelt,
feinmalert und hat am Ende natürlich doch wieder – ein Bild. So etwas wie ein
Widerbild, mehr oder weniger dem Original ähnlich. Diesem
Ähnlichkeitsverhältnis von Original und Gegenbild folgend ist eine Übersetzung
also genau das, was das Mittel der Poesie schlechthin ist: eine Metapher. Die
Übersetzung als Metapher des Originals, ehrlich gesagt, weiß ich noch nichts
Rechtes anzufangen mit diesem Fund, und auch das wird der eine oder andere
schon gedacht haben, aber es klingt schon mal gut. Meines Erachtens ist die
Theorie von der Übersetzung als Metapher zutreffender als jene von der
Übersetzung als Kopie. Davon kann im Verhältnis zwischen Übersetzung und
Original wohl kaum die Rede sein. Schon ein Künstler des 18. Jahrhunderts
sollte sich nicht mehr wie in den Jahren davor auf die Produktion von Kunst mit
Hilfe eines seit Jahrhunderten unveränderlichen antiken Regelkodexes
konzentrieren, sondern auf die Wirkung seiner Kunst. Lessing war einer von
jenen, die diese Forderung stellten; erreicht werden konnte dies mit der
enargeia, die die Grenze zwischen Malerei und Poesie aufheben sollte, wodurch
die Poesie in ihrer Wirkung ideal sein konnte, wenn sie darin einem Gemälde
glich. Reklamieren wir diese Forderung für den Poesie-Übersetzer, dann heißt
das, und da bin ich schon wieder bei meinem Steckenpferd, dann heißt das, er
muss sich vom Wort und seiner Bedeutung weg aufs Bild konzentrieren.
Doch bei aller Bildhascherei, die
ich hier betreibe, ist auch Vorsicht geboten. Brassinga thematisiert selbst die
Gefahr, zu sehr auf Bilder fixiert zu sein: Ihr Erwiderungsgedicht „´Ik heb het rood van het joodse bruidje
lief“ rückt das Gedicht von Peter Kemp: „Het rood van het joodse bruidje“ wieder
gerade, indem sie die dortige Verliebtheit in das Gemälde in die richtigen
Bahnen zurücklenkt, nämlich erotisch in eine Apologie des Lebens durch die
Identifikation mit der Position des liebenden Bräutigams.
Für Brassinga ist es ein
mythologisches Erlebnis, wenn sie in einer Mischung aus Verzweiflung,
Anstrengung und Entspannung ein Übersetzungsproblem löst. Sie nennt es eine
Epiphanie.[12]
Es ist, wie wenn man bei Goethe durch die Kirchenfensterscheibe tritt: „Kommt
aber nur einmal herein!“ lädt er ein und verspricht:“ Da ist’s auf einmal
helle“. Nein, wir wollen jetzt nicht die mittelalterliche Lichtmetaphysik
bemühen, sondern teilen einfach Brassingas Freude über eine geglückte
Übersetzung. Das Glück des Gelingens, kommtselten genug vor und unterscheidet
sich auch in den beiden Gattungen. Bei der Prosa entsteht sie durch die
Dynamik, die Geschwindigkeit, Eleganz, bei der Poesie ist sie härter erkämpft.
Das Poesielesen bzw. – übersetzen ist zwar auch ein Raum- und Weltenschaffen
wie die Prosa – aber die Welt ist eine andere. Eine statische, zeitanhaltende –
darüber können auch postmoderne Spielereien, nicht hinweghelfen. Und so ist es
kein Wunder, dass die Lösung sich manchmal einfindet durch bloßes Starren.
Da
ich die Hoffnung auf das Gesamt-Bild eh aufgegeben habe, setze ich mir also das
Lessing’sche Ziel: Ich werde auf die Wirkung hin übersetzen: Beispiel Heetboven
aus „Frucht“ (Wachtwoorden). Was sollte ich mit Heetboven anstellen, das für
den Deutschen keinerlei Zwischen-, Mit-, Um- oder Rückwärtsklang hat. Heissoben
klang bescheuert, Heetboven zu lassen wäre ein Armutszeugnis, warum also nicht
den Findungsakt der Dichterin nachvollziehen? Wenn sie den Nachnamen
verballhornen kann, kann ich das mit dem Vornamen schon allemal. Also wurde
auch Heetboven Wudlig. Und wer will kann außer etwas überdrehtem Mutwillen aus
diesem Wu-d/t-lich zwar nicht die Hitze
der Orangenhautbekämpfung heraushören, dafür aber die Wut auf jene läppische
anatomische Unzulänglichkeit als Gedichtinhalt oder aufs Übersetzen oder am
Ende auf Tod, Teufel, Liebe und Vergänglichkeit. Eines aber drückt es sicher
aus – und es rehabiliert vielleicht den mutlosen, glücklos erscheinenden
Übersetzer ein wenig – : Übermut.
Und weil’s auf ein Bild mehr oder
weniger nun auch nicht ankommt noch eins. Eins von Brassinga natürlich. Eins
über das Dichten. Nijhoff lesend wird sie immer wieder mit der Entdeckung der
Poesie konfrontiert „die te maken heeft met het tegen alle nog maar amper
bevroede levenswetten in willen leren vliegen door wapperend met de armen de
diepte in te springen, na het steeds opnieuw beklimmen van de trap, verlangend
naar vereeuwiging van het moment dat pijnlike melancholie, lustvolle
vermetelheid en vrije val samengaan“. [13]
Die Tiefe, den Abgrund überwindend jetzt auch noch fliegen? Nein, nein, bei
allem Übermut, das versuche ich erst gar nicht, da haut es mich Anfänger sicher
auf die Nase. Ich bleib beim Klopfen an gemalte Fensterscheiben. Poch, poch,
poch. – Vorerst …
[1] Hans Magnus
Enzensberger:gedicht für die gedichte nicht lesen, Reclam:Theorie der Lyrik, S.
114f.
[2] Zitiert von: Olga
Orozco:“Imaginäre Abenteuer der Poesie“, in: Joachim Sartorius: Minima poetica,
Köln 1999, S. 23-30, ebd. S. 25.
[3] Anneke Brassinga: Het zere
been, Amsterdam 2002, S. 215f.
[4] Theorie der Lyrik, S. 110.
[5] Lessing: Laokoon, 5/2, 1990, S. 14. [Andere
Quellenangabe für Simonides: Plutarch: De Gloria Atheniensium, Kap. 3.]
[6] Brassinga: Het zere been, S.
54.
[7] Anneke Brassinga:
Wachtwoorden, Amsterdam 2005, S. 31.
[8] Brassinga: Het zere been, S.
89.
[9] Brassinga: Het zere been,
a.a.O., S. 210.
[10]
(Adorno-Minima-Moralia-Anspielung bei Sartorius (1999:11)
[11] uit Schoonheid (3)
[12] Brassinga: Het zere been, S.
212f.
[13] Brassinga: Het zere been,
a.a.O., S. 183.