Glückseligkeiten[1]
Ich erlaube mir zu schwärmen: Wessel te Gussinklos De opdracht ist das beste niederländischsprachige Buch,
das ich je gelesen
das ich je ins Deutsche übersetzt habe[2]
das ich im Bücherschrank stehen habe
und das ich jedes Mal, wenn ich es in Händen halte und darin blättere und lese, noch mehr zu schätzen weiß als das vorige Mal, als ich es in Händen hielt und darin blätterte und las.
Der Autor dieses allerbesten niederländischsprachigen Buchs ist auch der netteste Autor, den ich kenne, dem ich aber unter die Augen zu treten mich kaum mehr traue, da es mir trotz aller Bemühungen bisher nicht gelungen ist, einen deutschen Verlag für dieses allerbeste niederländischsprachige Buch zu finden. Wofür ich mich schäme und mich auch schäme für den Literaturbetrieb eines Landes, das sich früher einmal rühmen durfte, die Heimat der Dichter und Denker zu sein, und mich auch schäme für viel zu viele niederländischsprachige Bücher, die ins Deutsche übersetzt werden und die dieser Literaturbetrieb sehr wohl erduldet, obwohl diese nur eins sein können: viel schlechter als Wessel te Gussinklos De opdracht.
Natürlich ist Wessel te Gussinklos De opdracht dick, sperrig, intellektuell und anspruchsvoll in Gegenstand und Sprache und zu allem Überfluss noch mit einem Protagonisten gesegnet, den man mit viel Wohlwollen kam anders als ein „kl… A…“ bezeichnen kann. Worauf es allerdings nur eine schulterzuckende Antwort gibt: „Na und?“ – oder noch besser: „Eben drum!“ Man braucht kein drittes Auge, um zu erkennen, dass hier ein Autor am Werke ist, der die Sprache noch beherrscht statt sie zu schänden, beleidigen, strapazieren, manipulieren, foltern, erniedrigen, missbrauchen, kurz zu halten, zu unterschätzen, demütigen, quälen, ärgern, plagen, verzerren, vernachlässigen, verballhornen, verquasten, verhohnepiepeln, verkrüppeln oder zu zerkochen, zermanschen, zertreten, verlachen, verlächerlichen, massakrieren und morden.
So einem Buch wünscht man viele Leser, man wünscht ihm Erfolg.
Doch was, wenn dieser Erfolg ausbleibt?
Und was ist Erfolg eigentlich?
Das Gekreische delirierender Feuilletons? Will man sich wirklich be- und manchmal aburteilen lassen von Rezensenten, die weder gründlich lesen noch gründlich schreiben, weil sie sich meist weigern, gründlich zu denken – auch weil das Rezensionshonorar auch selten dazu einlädt? Will man sich wirklich freuen an der positiven Rezension eines Praktikanten der Hinterdupfinger Nachrichten und daran, dass der Verlag als Folge dessen die markige Zeile stolz bei der nächsten Auflage auf den Umschlag druckt?
Eine zahlenmäßig große Leserschaft? Leute, die ein Buch oft nur deshalb für gut halten, weil eine beeindruckende Mehrheit das tun, weshalb eine zahlenmäßig große Leserschaft eine Herde auserlesener Schafe ist, die zwar alphabetisiert blöken kann, doch vom richtigen Lesen nicht allzuviel Ahnung haben.
Zugegeben: Ich habe zwei Anläufe gebraucht für Wessel te Gussinklos De opdracht. Zugegeben: Ich bin noch immer eine Lehrende im Lesen. Lesen macht Mühe, so wie das Leben Mühe macht, wenn man es richtig machen will.
Nie aber ist bei Erfolg von diesen wenigen die Rede, die sich beim Lesen diese Mühe machen. Warum eigentlich nicht? Warum spielen die Glückseligkeiten kaum eine Rolle, die so ein Buch im Leben eines Lesers hervorzurufen imstande ist?
Glückseligkeiten, von denen ich nur zwei nennen möchte und die ich jedem wahren, angestrengten und doch vergnügten Leser wünschte, z.B. jene, die mich beim lesenden Übersetzen von Wessel te Gussinklos De opdracht ganz allmählich heimsuchte: Die Erkenntnis, dass gute Bücher weniger der ganz großen Geschichten wegen erzählt werden, sondern vornehmlich der Sprache wegen. Definiert sich gute Literatur also eher über die Form als über den Inhalt? Das wage ich nicht zu behaupten, doch ich weiß, dass eine Geschichte noch so toll sein kann, wenn die Sprache, mit der sie erzählt wird, nichts taugt, ist sie nichts wert. (Wobei sich natürlich unweigerlich die Frage stellt, in welchem System dieses „taugen“ und „wert sein“ maßstabsbilden sind) Wahre Literatur vermittelt sich übers innere Ohr. Die Sprache mit ihrer Melodie und ihrem Rhythmus lässt die Stereozilien schwingen und dieses Schwingen setzt sich in den Windungen des Gehirns fort, und wenn es dann dort ordentlich klingt, flirrt und swingt, dann ist der lesende Geist bereit für das, was dieses Klingen, Flirren und Swingen ihm sagen will – er hält inne und lauscht. Nun ist der Geist bereit, in Ewout nicht mehr nur das „kl… A…“ zu sehen, sondern ihm, dem Autor und der Literatur zuzuhören, sie zu beobachten und schließlich zu verstehen und zu erfahren, dass hier große Literatur stattfindet und gleichzeitig eine große Geschichte erzählt wird.
Die zweite Glückseligkeiten ist eine Folge davon und besteht in der Erkenntnis, dass mit einer einzigen Szene ein Buch stehen und fallen kann. Durch diese Szene liegt dem Leser alles bisher Gesagte und alles noch zu Sagende offen vor ihm: er steht plötzlich vor einer weiten Landschaft und alle wenn auch vergnügliche Mühe des Bis-hierher-Gelangens fällt von ihm ab. In Wessel te Gussinklo ist dieser Glückskern ein Brief über Kaninchen. Nun weitet sich dem Leser die Brust und auf dem Gesicht breitet sich das verlegene, bewundernde und offene Lächeln aus, das ihn auch dann noch schmückt, wenn er in Gedanken dem Autor entgegentritt und ihm mit festem Händedruck ganz einfach nur dankt.
Ist auch so was Erfolg? Ist es denn kein Erfolg, wenn es nur vergleichsweise wenige sind, die das Glockengebinde des Gehirns durch Romane wie diesen zum Erklingen bringen wollen? Und dass es auch nur vergleichsweise wenige sein können, weil nur sie seit der frühesten Jugend nichts anderes tun, als Lettern zu fressen und das nicht nur, um in profanen Unterhaltungen Kurzweil zu treiben, sondern aus Lust- und Überlebensgründen. Allerdings sind die mit dem seltenen Oberstubengeläut auch selten diejenigen, die auf Jahrmärkten die große Tröte tröten, klebrige Zuckerwatte an den Meistbietenden verhökern und mit feistem Grinsen dem Gegenüber nur deshalb anerkennend auf den Rücken klopfen, weil sie nur sich selbst in die Brust werfen wollen. Obwohl – ein bisschen Jahrmarkt kann ganz unterhaltsam sein.
Sollte der Tag kommen, an dem Wessel te Gussinklos De opdracht tatsächlich auf dem deutschen Markt erscheint, dann möchte ich gerne wieder an jenen Teil der Literatur glauben, der sich so hässlich und gern Betrieb nennen – und vielleicht auch wieder an das Land der Dichter und Denker. Und dann endlich werde ich dem Urheber meiner Glückseligkeiten auch ohne Scham unter die Augen treten können.
[1] Dieser Essay erschien in: In de laatste loopgraven. Wessel te Gussinklo en De opdracht, hrsg. von Jaap Grave und Bart Kraamer, Koppernik: Amsterdam 2016, S. 59-62. (Die vorliegende Version wurde leicht verändert).
[2] Die Übersetzung ist nie erschienen, da sich der Verlag einen Monat vor Manuskriptabgabe gegen eine Publikation entschied. Der Lektor hatte gewechselt. Das geschah 1998.