Eigene Texte-Multatuli No1.


Max Havelaars Wasserfallphobie

oder: Weshalb die Frauen von Arles und Nîmes sich nicht die Nase putzen dürfen

Ira Wilhelm

Was geschieht, wenn ein Dixhuitièmistin, also eine Fachkundige des achtzehnten Jahrhunderts, und eine deutsche dazu, ihre Nase mehr oder weniger tief in ein Buch steckt, das sie eigentlich nur des Vergnügens wegen lesen wollte? Eben glaubt sie sich noch mit Hilfe der Einbildungskraft ins Indonesien des Neunzehnten Jahrhunderts versetzt, da liest sie plötzlich über die ästhetische Theorie aus dem Deutschland des Achtzehnten. Es geht nicht nur den Dixhuitièmisten so, man kennt es allgemein: Beschäftigt man sich mit einem Gegenstand ausführlichst, und zudem mit gewisser Begeisterung, springt einem dieser Gegenstand stets und überall, aus und an den unerwartetsten Flecken, Stellen und Orten entgegen. Aber die deutsche Ästhetik im 11. Kapitel von Multatulis Max Havelaar, dem J'accuse der Weltliteratur gegen das Kolonialgebaren der Niederländer?

Anfangs schien es nur etwas befremdlich, daß der Autor sich entschied, den Verfasser des Max Havelaar einen jungen Deutschen sein zu lassen: Ernst Stern «ist ein artiger Bursche. Er scheint gewandt und tüchtig, aber ich glaube, daß er ein bißchen schwärmt.»[1] Und daß er das tut, schwärmen nämlich — ein Begriff im niederländischen Original deutsch belassen und typisch für das deutsche achtzehnte Jahrhundert der Empfindsamkeit — setzt ihn sogleich in aussagekräftigen Gegensatz zu den bekannten charakterlichen Einschränkungen der als kleinbürgerlich, bigott und knickerig, als typisch niederländisch charakterisierten Krämer- und Kaufmannsseele Batavus Droogstoppel, Makler in Kaffee — wohnhaft in der Lauriergracht No. 37 — einer anderen Hauptperson des Buches.

Und auch in Schalmanns Paket, dem Leben Max Havelaars in überlassenen Papieren, darunter niemals gedruckte Abhandlungen über 144 doch recht launige Themen wie zum Beispiel ...

• Ueber die Strafbestimmungen, Kindesmord betreffend
• Ueber die Ursachen des Aufstandes der Niederländer gegen Spanien, nicht zu suchen in dem Streben nach Gewissensfreiheit und politischer Freiheit
• Ueber die Schwere des Lichts
• Ueber den Rückgang der Kultur seit dem Entstehen des Christentums
• Ueber die Kraft der Vorurteile, sichtbar an Krankheiten, die durch Zug verursacht sein sollen
• Ueber die Stelle, wo der Tag beginnt
• Ueber das Essigmachen
• Ueber die Unsittlichkeit des Angelns
• Ueber die Sünden der Europäer außerhalb Europas

... fallen der aufgescheuchten, zurückblätternden, nicht allein mehr zum Vergnügen lesenden deutschen Dixhuitièmistin, gleich mehrere Schriften ins befremdete Auge:

• Ueber die Verehrung von Schiller und Goethe im deutschen Mittelstande
• Ueber Gefühl, Mitgefühl, «sensiblerie», Empfindelei u.s.w.
• Ueber Baukunst als Ausdruck von Ideen
• Ueber die Armut der Malkunst
• Ueber die Schönheit der Frauen zu Nîmes und zu Arles, mit einer Untersuchung über das Kolonisierungssystem der Phönicier.[2]

Was Multatuli aber wirklich mit den Deutschen des Achtzehnten Jahrhunderts zu tun? Nun, was die Größen betrifft, so weiß man, daß er ihnen, wie sich auch aus dem verächtlichen Titel der genannten Abhandlung schließen läßt, nicht viel abgewinnen konnte. Goethe und Schiller waren ihm wenig sympathisch, suspekt sogar, Goethe noch mehr als Schiller. Multatuli hat dem größeren der deutschen Großdichter den enormen Erfolg rein menschlich wohl geneidet, doch abgesehen davon hielt er ihm als «Hauptfehler» vor, wenig oder — mehr noch — überhaupt nicht gelitten zu haben.[3] Multatuli, Nom de plume von Eduard Douwes Dekkers (1820 – 1887), bedeutet ‹der Vielgelittene›, und so hat er sich wohl schlichtweg für ein Kompliment zu Goethe gehalten oder umgekehrt Goethe für seins. Lessing war ihm lieber, Jean Paul übrigens auch, und vielleicht, was noch schöner wäre, weil es ein Steckenpferd der dies verfassenden Leserin ist: Johann Jakob Wilhelm Heinse. Dem zum Trotz ist einer der ersten Deutschen, auf den wir im Max Havelaar stoßen, wiederum — wenn auch nur mittelbar — Goethe, und zwar in einer Kurzausführung der in Schalmanns Paket eingeschlossenen Abhandlung zur Baukunst als Ausdruck von Ideen. «Werter Leser ...», klärt der Autor oder Ernst Stern oder Max Havelaar, das ist nicht immer ganz klar, den neugierigen Leser auf: «... es gibt keine Türme. Ein Turm ist ein Gedanke, ein Traum, ein Ideal, ein Ersonnenes, unerträgliche Übertreibung! Es gibt halbe Türme, und Türmchen.» Und fährt fort zu erläutern, daß der Betrachter sich angesichts eines gewaltigen sakralen Bauwerks Rechenschaft abgeben müsse «von der Kraft des Innenlebens, das solch einen Koloß nötig hatte, um als sichtbarer Ausdruck des unsichtbaren religiösen Gefühls zu dienen».[4] Mit der sichtbaren Versteinerung der unsichtbaren gottesfürchtigen Idee ist der sich damals gerade im Fertigbau befindliche Kölner Dom gemeint. Havelaar fährt fort: «Es liegt eine tiefe Kluft zwischen Erwin von Steinbach und unseren Baumeistern! Ich weiß, daß man seit einigen Jahren daran ist, diese Kluft auszufüllen. [...] Doch nicht ist für Geld feil das irrende und doch ehrerbietungswürdige Gefühl, das in einem Bauwerk eine Dichtung sah, eine Dichtung von Granit, die laut sprach zum Volke, eine Dichtung in Marmor, die dastand wie ein unbewegliches, unaufhörliches, ewiges Gebet.»[5]

Die Nennung des Namens Erwin Steinbach legt die Vermutung nahe, daß es sich bei dem Inhaber des verirrten Gefühls um Johann Wolfgang Goethe handelt. Dieser hatte seine 1772 entstandene Abhandlung Von Deutscher Baukunst[6] Erwin von Steinbach gewidmet, dem Erbauer des Straßburger Münsters — und somit nicht des Kölner Doms. (Entweder hatte Multatuli ursprünglich für diese Stelle das Münster in Erwägung gezogen und sich erst später für den Kölner Dom entschieden, wobei er bei der Redaktion die Tilgung des Namens Steinbach vergessen hatte, oder er hat Steinbach einfach irrtümlich für dessen Erbauer gehalten.) Aber erst in seinem zweiten Aufsatz zur Baukunst, 1795, vertritt Goethe die Ansicht, daß die Architektur als eine Dichtung in Stein zu betrachten sei.[7] Er bezieht sich dabei auf die idealistische Grundauffassung von Architektur, die diese nicht als nachahmende, sondern als eine fiktiv schaffende, auf abstrakten Gegebenheiten gründende Kunst versteht. Die These von der Idee als Ausgangspunkt aller Architektur formulierte auch die damals vielfältig diskutierte, auf Vitruv zurückgehende, sogenannte Urhüttentheorie des Abbé Marc-Antoine Laugier (1713 – 1769). Gegen ihn hatte Goethe in seinem frühen Baukunst-Aufsatz aber noch polemisiert: «Was soll uns das, du neufranzösischer philosophierender Kenner, daß der erste zum Bedürfnis erfindsame Mensch vier Stämme einrammelte, vier Stangen drüber verband, und Äste und Moos drauf deckte?»[8] Einem architekturtheoretischen Rousseauismus verhaftet, glaubte Laugier, die hochentwickelte Kunst des griechischen Tempelbaus habe in den Formen der Natur ihren Ursprung. Multatuli muß, vielleicht vermittelst Goethe, diese Theorie gekannt haben, denn folgende Stelle, womit Max Havelaar seine Ideengeschichte der Architektur fortsetzt, ähnelt in verblüffender Weise der Version Goethes: «Nach einem Hut mit breitem Rand, einem Regenschirm oder einem hohlen Baum ist eine Pendoppo gewiß der einfachste Ausdruck der Vorstellung ‹Dach›. Denkt euch vier oder sechs Baumbuspfähle in den Boden gerammt, die oben an den Enden durch weitere Bambusstangen miteinander verbunden sind, worauf dann eine Bedachung von den langen Blättern der Wasserpalme gesetzt ist, die in diesen Gegenden ‹atap› heißt, und ihr werdet euch die sogenannte ‹pendoppo› vorstellen können.»[9] Multatuli ironisiert durch seine Variation die Laugiersche Theorie und verlegt die Wiege der klassizistischen und damit aller abendländischen Baukunst ohne viel Aufhebens in den indonesischen Archipel. Mehr nicht.

Dies alles fällt der Leserin wieder ein, als sie beim Nachttischgespräch im elften Kapitel des Max Havelaar angelangt ist, und ihr vorahnender Versuch, die ästhetische Theorie aus dem Achtzehnten Jahrhundert darin wiederzuerkennen, macht es zum

Quell eines teuflischen Vergnügens.
Nach einem ausgiebigen Mittagsmahl in seinem Haus mitten im indonesischen Urwald führt Max Havelaar ein kurzweiliges Verdauungsgespräch, allerdings mit zwei wahrhaften Simplexen: Duclari und Verbrugge. Der Soldat und der Kolonialbeamte im Dienste der niederländischen Majestät können den theoretischen, etwas verstiegenen Ausführungen des Selbstdenkers Havelaar in keiner Weise folgen, und ihre Unbedarftheit hebt den komischen Gehalt der Szene um ein Beträchtliches. Denn Havelaar will den beiden in seiner Rede nichts Geringeres darlegen als das Wesen der Schönheit, sei es der von Miss Mata Api oder der Frauen von Arles und Nîmes, und dabei bedient er sich — zuerst einmal der Wasserfälle:

Muß man ›Donnerwetter!‹ sagen.
Havelaar gesteht: «Sehen Sie sich zum Beispiel die Wasserfälle an, von denen man so viel spricht und schreibt. Was mich betrifft, ich habe wenig oder nichts empfunden zu Tondano, zu Maros, zu Schaffhausen, am Niagara.»[10] Multatuli macht seinen Havelaar dadurch nicht nur zu einem etwas ungefühligen Reisenden, sondern beendet mit einem Handstreich ein anderes Kapitel der europäischen Ästhetikgeschichte, und zwar das Kapitel: Wasserfälle in der Literatur, mit dem Rheinfall von Schaffhausen im besonderen. Der schweizerische Katarakt war im achtzehnten und auch noch im neunzehnten Jahrhundert ein äußerst beliebtes Reiseziel und vielfältiges Objekt von Schilderungen, sei's bildlicher oder literarischer Art, der Besuch ein unbedingtes Muß für jene zahlreichen, die auf dem Weg ins gesegnete Italien waren. Goethe, Wilhelm Heinse, Graf Stolberg, J. H. Campe, William Cox, John Ruskin, um nur einige zu nennen. Havelaar aber hat es satt: «Man muß die Nase in seinen Baedecker stecken, um dabei da vorgeschriebene Maß von Bewunderung über ‹soundsoviel Fuß Fall› und ‹soundsoviel Kubikfuß Wasser in der Minute› bei der Hand haben, und wenn dann die Ziffern hoch sind, muß man ‹Donnerwetter!› sagen.»[11]

Der Rheinfall von Schaffhausen war im ästhetischen Sinne von zweifachem Zweck. Einmal war er Symbol für die im achtzehnten Jahrhundert sich im Schwange befindliche Naturphilosophie, daß alles Bewegung und nichts als Bewegung sei, und zum anderen übten sich die reisenden Schriftsteller bei der Beschreibung seiner in dem, was nach Lessing der Literatur Eigenstes ist: in der Darstellung von Bewegung mit poetischen Mitteln. Unter anderem bereits erwähnter Wilhelm Heinse: «Er sieht ganz wild und ernst aus, und stürmt trotzig über die Felsen hin, kühn und sicher nicht zu vergehen. Es ist eine erschreckliche Gewalt; und man erstaunt wie die Felsen dagegen aushalten können. Das Wasser scheint von der heftigen Bewegung zu Feuer zu werden und raucht; aber sein Dampf ist Silber, so rein wie sein Element ist. [...] Es ist der Rheinstrom: und man steht davor wie vor dem Inbegriff aller Quellen, so aufgelöst ist er; und doch sind die Massen so stark, daß sie das Gefühl statt des Auges ergreiffen, und die Bewegung so trümmernd heftig, daß dieser Sinn ihr nicht nach kann, und die Empfindung immer neu bleibt, und ewig schauervoll und entzückend.»[12] Indem Havelaar programmatisch verkündet, von Wasserfällen ein für allemal genug zu haben, distanziert er sich prometheusisch-selbstbewußt von solcher Art schon fast genormter Naturerfahrung: Er will dem ciceronisch diktierten und literarisch vielfach strapazierten Soll-Gefühl nicht länger gehorchen: «Ich werde mir niemals wieder Wasserfälle ansehen, wenigstens nicht, wenn ich deshalb einen Umweg machen soll. Diese Dinge sagen mir nichts!»[13] Warum aber sagen sie ihm nichts? Das könnte nun wiederum viel mit Lessing und seinem Laokoon von 1766 zu tun haben, und außerdem mit dem
Lachen La Mettries.

Julien Offray de La Mettrie, seines Zeichens Materialist und von Multatuli bewundert, hatte sich — von Friedrichs II. berühmten Kupferstecher Georg Friedrich Schmidt — als lachender Demokrit portraitieren lassen. Lessing zufolge lacht er aber nur beim ersten Betrachten: «betrachtet man ihn öftrer, und es wird aus einem Philosophen ein Geck; aus seinem Lachen wird ein Grinsen»[14], das heißt, La Mettrie macht sich — im erhabenen achtzehnten Jahrhundert eine allzu leichte Sache — unsterblich lächerlich. Leidenschaften, so Lessings Schluß, können, ob heiter oder ernst, in den bildenden Künsten nun einmal nicht dargestellt werden. Weil eine Statue, die den Schmerz in Stein gehauen zeigt, für ewige Zeiten schreien und damit das ernsthafte Gefühl auf die Dauer wie das Lachen kompromittieren würde, dürfe aus dem geöffneten Mund der Statue zwar ein Stöhnen, ein Atemholen, aber niemals ein Schrei ertönen.[15] Des Grinsens als einprägsamer Ausdruck der Häßlichkeit bedient sich auch Havelaar am Bild einer Tänzerin, die in der Bewegung einhaltend auf dem linken Bein verharre und dem Publikum applausheischend zugrinse.[16] Selbst Verbrugge muß bestätigen, daß dies «absolut häßlich» sei.[17] Nun, ganz ähnlich verhält es sich mit den Wasserfällen, sie sagen Havelaar nichts, weil sie nicht sprechen, und sie sprechen nicht, weil sie dauernd schreien, und dazu noch immer dasselbe: «Sie rufen: hrru ... hrru ... hrru, und niemals etwas anderes: Rufen Sie mal sechstausend Jahre oder länger: hrru, hrru ... und sehen Sie zu, wie wenige Sie für einen unterhaltenden Menschen ansehen werden.»[18] Darauf will es Duclari allerdings lieber nicht ankommen lassen.

Die Vorliebe für die Bewegung und die Behauptung, daß weder Architektur, noch Malerei noch Bildhauerei im Grunde schön sein können, weil Bewegung ihnen nun gerade am meisten fehlt, teilt Havelaar mit besagtem Wilhelm Heinse. «Natur ist Bewegung; Wachstum, Hunger, Denken, Fühlen ist Bewegung ... Stillstand ist der Tod! Ohne Bewegung kein Schmerz, kein Gefühl, kein Empfinden!»[19] Man müßte es wohl mehr als Zufall nennen, wenn Multatuli hier nicht wörtlich den Vitalisten des achtzehnten Jahrhunderts, Heinse, zitiert, der seine Hauptperson Ardinghello im gleichnamigen Roman ausrufen läßt: «Nichts wirkt recht auf den Menschen, was stille steht; aller Stillstand wird bald Tod.»[20] Daß Multatulis Übersetzer bei der Aufzählung, wozu Bewegung noch unerläßlich sei, den Genuß unterschlägt, mag vielleicht pure Gedankenlosigkeit gewesen sein, aber er unterschlägt damit einen für Multatuli zentralen Begriff. Genuß ist eine Tugend lautete der Titel eines Vortrags, den Multatuli am 19. März 1878 in aller Öffentlichkeit hielt und womit er — wie der Arnhemsche Courant am 20.3.1878 meldete — beim Publikum «ohrenbetäubenden Jubel» erntete. Genuß war nicht nur La Mettries tödliches Schicksal, der, um Freunden seine «Genußkraft» zu demonstrieren, eine riesige Pastete verschlang und daran zugrundeging. Genuß war auch Wilhelm Heinses Lebens- und Kunstziel. Auch er sah ihn mit der Bewegung in engem Zusammenhang — wenn er ihn auch nicht ausschließlich auf Kunstdinge begrenzt: «... ich habe von dem Menschen, außer der wirklichen Vermischung, hauptsächlich Genuß durch seine Reden und Handlungen, durch Worte und Bewegungen; beydes kann mir die bildende Kunst nicht geben». Heinse läßt im folgenden ebenfalls, um Bewegungslosigkeit als Urgrund der Häßlichkeit eindrücklich werden zu lassen, jemanden erstarren: «Man stelle sich seinen Freund auch in dem interessantesten Moment der Freundschaft auf einmal wie zu einer Büste versteinert unveränderlich mit seinen Mienen und Gebehrden vor! mit Erinnerung der Worte aller vor und nach dem Moment wird das Bild gewiß lieblich in die Seele leuchten, und anfangs einen Freudenschauer erregen. Aber wie die Erinnerung sich schwächt, wird es nach und nach immer weniger bedeuten, und, bey den Gedanken an hundert andre Scenen, endlich leer, und sogar Spott werden.»[21]

Ja, aber warum, will Duclari insistierend von Havelaar wissen, warum fände er denn Wasserfälle nicht schön, da sie sich doch durchaus bewegten? Weil sie sich nicht veränderten, weder in der Lautfolge noch im Ort, lautet die Antwort Havelaars, und weil sie sich noch weniger bewegten als ein Schaukelpferd[22], auf der Stelle, aber nicht mal hin und her, seien sie die Häßlichkeit selbst. Bewegung sei zudem auch Geschichte, Bewegung in der Zeit also, und die hätten die Wasserfälle überhaupt nicht aufzuweisen. Duclari murmelt ein «meinetwegen» läßt die Wasserfälle sein und erkundigt sich, ob denn ein Gemälde schön sein könne? Im Grunde schon, gesteht Havelaar zu, was uns zu einem anderen ästhetischen und für das Achtzehnte Jahrhundert typischen Problem führt, zu den Lessingschen «Schranken der Kunst» und zur Multatulianischen Umschreibung davon:

Die Armut der Malerei.
Als Gegenstand der Malerei taugen die Wasserfälle nun am allerwenigsten. Auch das hatte bereits Heinse festgestellt: «Und überhaupt ist es Frechheit von einem Künstler, das vorstellen zu wollen, dessen wesentliches bloß in Bewegung besteht. Tizian zeigt klüglich allen Wasserfall nur in Fernen an ...»[23] Havelaar hatte die Bewegungs- und Geschichtslosigkeit als Hauptmakel von Architektur und bildenden Künsten erkannt, und Lessing für die letzteren schon längst gefordert, daß sie, weil ihr Wesen so sei, sie dies durch die Wahl eines «fruchtbaren Augenblick[s]»[24] kompensieren müßten. Dann könne ein Gemälde durchaus schön sein, meint Havelaar, führt dann aber anhand eines historischen Gemäldes, das Maria Stuart kurz vor ihrer Enthauptung darstellt, vor, wie sehr andererseits ein in Dauer gefaßter, furchtbarer, falsch gewählter, weil nicht «transitorisch[er]»[25] Augenblick den Betrachter malträtieren könne. Dieser könnte am Ende sogar «Mitgefühl für den Henker»[26] empfinden, weil er für alle Ewigkeit verdammt sei, mit schmerzhaft hocherhobenem Arm stehenzubleiben, und sich wünschen, er möge Maria Stuart doch nun endlich den Kopf abhacken, damit die Geschichte nicht nur für den Henker, sondern auch für das Opfer ein gutes Ende nehme. Das ist eine ins Komische gewendete Perversion der Erfahrung von Kunst und Schönheit , deren alleiniger Sinn und Zweck nach Havelaar darin bestehe, uns dazu zu bringen, «gut zu sein».[27] Uns gut sein lassen, könnten seiner Ansicht nach aber eher und gewisser als bildende Kunst und Wasserfälle:

Die schönen Frauen von Arles und Nîmes.

Im achtzehnten Jahrhundert gab es hinsichtlich der weiblichen Schönheit einen Gemeinplatz. Wollte man der Mühe entgehen, eine schöne Frau zu beschreiben, so wurde sie kurz schön wie ein Weib aus Georgien oder Circassien genannt.[28] Havelaar verlegt die klimatisch begünstigte Brutstätte schöner Menschenart nach Frankreich. Eine schöne Frau sei «Die Schönheit in abstracto [...] als sichtbares Bild des Wahren, des Unstofflich=Reinen»[29] und käme «dem Ideal des Göttlichen am nächsten».[30] Göttliche, übernatürliche, vollkommene Idealschönheit war die Auszeichnung aller erhabenen, antiken und der nachahmend klassizistischen Kunst. Um zu beschreiben, wie die Kunst der Alten, die Statue einer Venus zum Beispiel, im Idealfalle auf den Betrachter wirken sollte, hätte man sich auch ohne weiteres der Worte Havelaars bedienen können: «Denn so edel waren die Züge, daß man etwas wie Scham fühlte, nur ein Mensch zu sein und nicht ein Funke [...], ein Strahl — nein, das wäre stofflich! [...] ein Gedanke!»[31] Winckelmanns ‹Edle Einfalt und stille Größe› als Schönheits- und Moralkodex tönt hier zweifellos mit. Beim Anblick schöner Statuen sich zu schämen, lediglich Mensch zu sein und zugleich den Entschluß zu fassen, wenn schon, dann einer ihrer besten zu werden, war symptomatisch für die Rezeption antiker Kunst. Das Vollkommene ist übermenschlich, außermenschlich, göttlich u. ä. m., abstrakt wie die Idee, die der Erfindung eines Pendoppos oder eines Kölner Doms zugrundeliegt.

Für einen einfachen Geist wie Duclari ist das alles kaum zu begreifen, und er erwartet von einem «vollkommenen» und schönen Gemälde nur, daß er davon «ganz denselben Eindruck haben [müsse] wie von der Wirklichkeit».[32] Während Verbrugge, Havelaars Definition eingedenk, daß unsere auf Bewegung gerichtete «Schönheitssucht» nicht zufrieden sei mit «einem Blick auf das Schöne», sondern «das Bedürfnis nach einer sich anschließenden Reihe von Augengenüssen fühlt»[33], womit er eine andere Forderung klassizistischer Kunst, nämlich daß diese mit einem einzigen Blick erfaßbar sein müsse, für ungültig erklärt, was ich hier aber nicht näher ausführe, weil das nun wirklich zu weit ginge, während Verbrugge sich also abschließend nun die Frage stellt: «Aber was ist denn für eine Bewegung in der Schönheit der Frauen in Arles?»[34] Diese bestehe aus der Geschichte in ihren Gesichtszügen, erläutert Havelaar. Als er ihrer vor vielen Jahren ansichtig geworden sei, hätte er auf ihrer Stirn vieles «erlesen» können. Nicht, was man von der Schönheit lange Zeit wie selbstverständlich erwartete: die Geschichte und Schönheit griechischer oder römischer Antike, ihrer Menschen, Götter, Landschaften, Kunst etc, sondern — zwar auch etwas Altes, aber vollkommen anderes und für Havelaar völlig Naheliegendes: Karthago, wie es «blüht und Schiffe [baut ...] den Hannibalschwur gegen Rom […] da flechten sie Sehnen für die Bogen […] da brennt die Stadt»[35] und natürlich, man muß sich erinnern, einiges «über das Kolonisierungssystem der Phönicier».[36] Doch den edlen Duktus des Erhabenen, den Havelaar in dieser Beschreibung der Frauen von Arles und Nîmes anklingen läßt, beendet er, zur Enttäuschung seiner Frau Tine, allzu brüsk: «Aber […] dann saß da plötzlich ein Bruder oder ein Vater neben diesen Frauen, und […] Gott bewahre mich, ich habe eine gesehen, die sich schnäuzte.»[37] Wer göttlich schön bleiben will, darf sich so wenig die Nase putzen wie Laokoon schreien darf.

Ist's wirklich möglich, daß Multatuli sich im elften Kapitel seines Max Havelaar teuflisch lustig macht über die gesamte idealistische Kunsttheorie, über die Schwärmerei, über die lächerliche Erhabenheit von deutscher Klassik und des Klassizismus im allgemeinen, der das weltlich-niedrig Menschliche als Gegenstand der Kunst ausschloß, weil es zu häßlich sei? Und daß er sich dafür noch äußerst raffiniert der im achtzehnten Jahrhundert beliebten Form des Kunst-Gesprächs bedient, von denen übrigens auch im Ardinghello mehrere geführt werden, wobei er das Muster ins Absurde ausreizt, weil Havelaars Mitstreiter von Kunst und Schönheit nicht die leiseste Ahnung haben? Vielleicht.

Bleibt noch die Frage, ob Multatuli Heinses Ardinghello gelesen hat? Die Bibliotheksverzeichnisse zu Multatulis Bibliothek weisen ihn nicht auf, aber selten war eine leere Stelle in einem Bücherschrank ein schlagender Beweis.

Da also Wasserfälle sowieso nicht das sind, was sie scheinen, der Kölner Dom eigentlich das Straßburger Münster ist, die Frauen von Arles und Nîmes eigentlich aus Georgien und Circassien stammen, da die einhaltende Tänzerin, der schlagfertige Henker oder das Graunen des Wasserfalls nichts weniger darstellen als La Mettries Grinsen und das Naseschneuzen tönt wie ein Schrei der Qual, ordnen wir das Ganze vielleicht doch lieber den Hirngespinsten zu, lassen es wie einen Gedankenschatten folgenlos an uns vorüberziehen und lesen den wundervollen Max Havelaar wieder des reinen Vergnügens wegen.


Kurzschrift 2.1999, S. 57–69

Die Photographie stammt von estorde unter CC

Sa, 04.04.2009 |  link | (263) | 2 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Essai



edition csc   (04.04.09, 10:26)   (link)  
Ira Wilhelm
ist «Fachkundige des 18. Jahrhunderts», hat Komparatistik, neue deutsche Literatur und Anglistik studiert. Sie ist überwiegend als Übersetzerin aus dem Niederländischen tätig, der Sprache, mit der sie in Surinam ihre Kindheit verbracht hat.


edition csc   (04.04.09, 10:29)   (link)  
Havelaar-Anmerkungen
1 Multatuli: Max Havelaar, übertragen von Wilhelm Spohr, Minden 1903, S. 18
2 Multatuli: Max Havelaar, a. a. O., S. 20-25
3 Multatuli: Ideën. Eerste Bundel, Volledige Werken, Band IV, Amsterdam 1973, S. 473, Idee 722
4 Multatuli: Max Havelaar, a. a. O., S. 38. Spohrs Übersetzung ist hier etwas unglücklich. Multatuli spricht auch hier vom «Einfluß der Ideen» auf das Gebäude.
5 Multatuli: Max Havelaar, a. a. O., S. 56f.
6 Johann Wolfgang Goethe: Von deutscher Baukunst (1772), in: Ders.: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Band 12: Schriften zur Kunst und Literatur, hrsg. von Erich Trunz, Herbert von Einem und Hans Joachim Schrimpf, München 1988, S. 7-15
7 Johann Wolfgang Goethe: Baukunst (1795), in: Ders.: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Band 12: Schriften zur Kunst und Literatur, hrsg. von Erich Trunz, Herbert von Einem und Hans Joachim Schrimpf, München 1988, S. 35-38
8 Johann Wolfgang Goethe: Von deutscher Baukunst (1772), a. a. O., S. 9
9 Multatuli: Max Havelaar, a. a. O., S. 39f.
10 Multatuli: Max Havelaar, a. a. O., S. 118
11 Multatuli: Max Havelaar, a. a. O., S. 118. Zur Erläuterung muß man hinzufügen, daß Multatuli den Niederländer angesichts imposanter Katarakte nicht ein krachendes «Donnerwetter!» ausrufen läßt, sondern ein einfaches, zur Kenntnis nehmendes, leicht bewunderndes bescheidenes: «hè».
12 Wilhelm Heinse: Aus verwischten einzelnen Blättern. Das Nachlaßheft Nr. 16, hrsg., erläutert und mit einem Nachwort versehen on Ira Wilhelm, St. Ingbert 1997 (Kleines Archiv des achtzehnten Jahrhunderts, Band 30), S. 9 und 13
13 Multatuli: Max Havelaar, a. a. O., S. 118
14 G. E. Lessing: Laokoon. In: Ders.: Werke 1766-1760, hrsg. von Wilfried Barner, Frankfurt am Main 1990, S. 33
15 Vgl. Lessing: Laokoon, a. a. O., S. 29 und öfter
16 Multatuli: Max Havelaar, a. a. O., S. 119
17 Multatuli: Max Havelaar, a. a. O., S. 119
18 Multatuli: Max Havelaar, a. a. O., S. 120
19 Multatuli: Max Havelaar, a. a. O., S. 119
20 Wilhelm Heinse: Ardinghello, Leipzig 1904, S. 190
21 Heinse: Ardinghello, a. a. O., S. 192f.
22 Multatuli: Max Havelaar, a. a. O., S. 120
23 Heinse: Ardinghello, a. a. O., S. 399
24 Lessing: Laokoon, a. a. O., S. 32 und öfter
25 Lessing: Laokoon, a. a. O., S. 32
26 Multatuli: Max Havelaar, a. a. O., S. 122
27 Multatuli: Max Havelaar, a. a. O., S. 123
28 Vgl. auch Heinse: Ardinghello, S. 122
29 Multatuli: Max Havelaar, a. a. O., S. 117
30 Multatuli, Max Havelaar, a. a. O., S. 119
31 Multatuli, Max Havelaar, a. a. O., S. 123
32 Multatuli: Max Havelaar, a. a. O., S. 122
33 Multatuli: Max Havelaar, a. a. O., S. 119. Dazu noch einmal Lessing mit erweiterter Definition: «Reiz ist Schönheit in Bewegung», a. a. O., S. 155
34 Multatuli: Max Havelaar: a. a. O., S. 122
35 Multatuli: Max Havelaar, a. a. O., S. 123
36 Multatuli: Max Havelaar, a. a. O., S. 22
37 Multatuli, Max Havelaar, a. a. O., S. 123