Über Venedig (1998)


Heinse und Venedig

Keiner, der Venedig nicht schön nennen würde. Kaum einer, der zu fragen wagt, ob es das auch wirklich ist.  Niemand, der das Gegenteil zu behaupten sich traute. Venedig ist schön, und damit basta, daran ist kein Zweifel erlaubt. Früher trauten manche sich mehr: Johann Jakob Wilhelm Heinse zum Beispiel, in Venedig von November 1780 bis Mai 1781 und dann noch einmal im August 1783, sagt, es sei doch eher ein »sichrer Zufluchtsort von dem Lande weggeprügelter, und weggescheuchter furchtsamer Hasen; die sich hernach groß und zu geflügelten Löwen gemacht haben, als die Feinde ihnen übers Wasser nicht nach konnten, und sie von fern sicher sehen mußten. Eine unüberwindliche Festung ists gewiß, weil durch die Sümpfe nichts anders als kleine Barken anländen können. Schön ist es nicht; die spitzen Thürme, und paar Kuppeln sind ein Elend gegen Rom, Neapel und Genua. Es ist ein unzukommlich Hasennest; aber eben weil es unüberwindlich , und unzukommbar ist, trägt es, vom unendlichen Meer umgeben, eine gewiße Majestät an sich. Näher sieht man nur kleine Fenster im verwirrten Gewühl und häßliche Mauern.«[1] Im Ardinghello zitiert Heinse Jacopo Sannazaro, der fürstlich bezahlt worden war, um das Lob Venedigs zu singen. »Illam homines dices, hanc posuisse deos« [2] Und fügt trocken hinzu: »Die Wahrheit bezahlt man selten so theuer.« [3]

Also, ist die Markusbasilika nun schön? So mit Zweifel befragt, nickt man erst leicht, leise zögernd, räumt dann aber ein, daß man im Grunde doch ein wenig enttäuscht war, als man sie zum ersten Mal sah. Geduckt und demütig kauert sie vor dem Campanile, und einzig Goethe war groß genug, sie mit einem »Taschenkrebs« vergleichen zu dürfen. Man selber hatte ein Gebäude der Ausmaße von mindestens einer französischen Kathedrale erwartet, aber Kathedrale ist  sie erst seit 1807, vorher war sie schlicht ein Dom, noch schlichter die Dogenkapelle. Wie unordentlich sie wirkt, diese inner- und auswärtige Ansammlung alttürkischen Nippes, an dem herumzuschönern kein geringerer als Tizian zu müssen glaubte, ohne jedoch sein Unterfangen zu Ende zu führen, was alles nur noch schlimmer machte. Das, was er links liegen gelassen hat, das Mosaik in der Lünette über dem Portal di Sant'Alipio ist das einzig erhaltene der ursprünglichen aus dem 13 Jahrhundert, und ihm gegenüber wirken die Mosaike des 16. Jahrhunderts wie buntgrelle, in ihrer Bewegung fast zappelnde Comicstrips. Und dann die berühmten Pferde von San Marco. Steif und grau wie ungefügige Esel stehen sie auf der Balustrade, dumpf statt glänzend und golden zu traben, was man ihnen rasch vergibt, wenn man erfährt, daß die echten, schimmernden, edlen in der Basilika auf dem Dachboden schnauben. Aber enttäuscht ist man nur, bis das Abendlicht einsetzt. Die Stimmung des Sonnenuntergangs versöhnt, dann ist alles, was glänzt Gold, und die alte Dame beginnt zu lächeln.

Man könnte sich bis in alle Ewigkeit den Kopf zerbrechen, um herausfinden zu wollen, warum Venedig so einzigartig ist, für die, die es noch nie, wie auch für jene, die es einmal oder immer wieder gesehen haben. Adriano Sofri berichtet in seinem Buch Der Knoten und der Nagel von einem Freund, der behauptete, Venedig genieße diese Sonderstellung, weil nicht nur die Gondeln, sondern alles außer der Symmetrie und der rechten Ordnung seien. Andere führen das auf den einheitlichen Eindruck des Stadtgebildes als ununterschiedenes Ganzes zurück, wobei ihnen die Baugeschichte recht gibt, da die Paläste einer typologischen Ordnung folgten, aus der keiner ausbrechen durfte, weil mit der Gleichartigkeit die »concordia« der Patrizier zum Ausdruck kommen sollte.[4] Aber dieses zusammengesetzte Venedig fasziniert, wozu nicht wenig das fremd Hereingetragene beitragen dürfte, das märchenhaft golden Byzantinische, der »Stadt des Orients«, wie Proust sie nannte.[5] Integriert und geschmolzen zum veneto-byzantinischen Stil, darf man sich hier anhand der Architektur am Fremden im Eigenen ergötzen, ohne die schwarzen Schnurrbärte und Krummsäbel fürchten, ohne sich von Sprache, Sitten und Gebräuche befremden lassen zu müssen. Die Sehnsucht treibt uns weg vom öden Jetzt und Hier und Heute des Alltags in ferngelegene Gebiete und zu Menschen, die wir schöner und besser glauben. Venedig ist das Traumgefilde aller Reisenden. So trifft am 20. Oktober 1893 der niederländische Dichter Louis Couperus  in Venedig ein und macht sich noch in der Nacht auf, um die Bilder seiner Vorstellung an der Wirklichkeit zu überprüfen und in sein Reisetagebuch zu notieren: »Die ersten Schritten dieser Nacht führten zur Piazza. Sie ist die entzückende, blendendschöne Kulisse aus dem dritten Akt einer großen Oper, die Kathedrale eine Dichtung, ein Märchen der Verzauberung, als ob dort ein Sultan mit seinen Prinzessinnen wohnte, in einem Leben aus Tausendundeinernacht; der Dogenpalast die zweite Dichtung, das zweites Märchen: ein Palast in ungewöhnlicher, rechteckiger Märchenform, Arkaden und nur vereinzelte Bogenfenster, hinter denen die Verzauberung herrscht, hinter der langgestreckten Fassade aus goldfasrigem Flechtwerk und zinnengefaßter, auf die linke Seite gekehrter Spitzen- und Stickereiarbeit, die sich steif marmorn in die Nachtluft bauscht...«[6]

Mehr als hundert Jahre vor Couperus verkündete Heinse am  22. November 1780 stolz seinem Gönner und Reiseförderer Friedrich Jacobi: »Eccomi a Venezia!« Und viele machen sich heute noch auf, und auf allen ankommenden Gesichtern gleich welcher Couleur, liest sich nur eins ab: »Eccomi a Venezia!« und es tönt wie von allen Seiten »Eccomi a Venezia«, und wenn sie damit fertig sind, dann heißt es vor allerorten »Che bello!«, »Wie schön!« »Isn't it beautiful!« »C'est merveilleuse!«, um sich dann nicht viel später unter die Vormundschaft eines gedruckten Cicerone zu begeben, der einem die Schritte da und dorthin befiehlt.  Dieser schickt, befiehlt, kommandiert da und dorthin, weil er den Vorsprung des Wissens besitzt, und Wissen ist bekanntlich Macht, auch über die Schönheit. Er weiß genau, was zu sehen es wert ist, wovor dann der Befohlene mit aufgesperrten Gesichtslöchern zuerst staunen muß, um dann wie Multatulis führerhöriges Publikum im Max Havelaar »Donnerwetter! [zu] sagen« .[7] Warum sie das sollen ist den meisten allerdings ein Rätsel. Warum sie die Reise gemacht haben, übrigens auch. Sind sie dabei doch getrieben von Wünschen und Verlangen, Feigheit, Ängsten und dem Bedürfnis zu wissen, was vor unserer Erinnerung war. Das Byzantinische, aber auch die in Form der klassizistischen Bauten vorhandene Antike sollen uns einiges über den Anfang der Kunst und unserer eigenen erzählen helfen. Warum ist einem das übriggebliebene Mosaik das liebste, warum würde man es deshalb als das schönste bezeichnen? Ganz einfach, weil es das älteste ist. Vielleicht birgt es ungeahnte Weisheiten. Der Mensch strebe von Natur aus nach Wissen und Weisheit, stellte Aristoteles fest, Platon verkündete den Weg dazu im Stufengang des Schönen, angetrieben vom Eros.
     Erotische Neugier der untersten Stufe befriedigte Heinse in Venedig, und die Stadt zeigt sich auch durch und durch von der Liebe bestimmt. Das führte er auf die Stadtstruktur zurück: »Man kan Venedig nicht anders als eine Festung betrachten«, wiederholt Heinse und fährt fort: »Die Straßen sind oft so eng, daß kaum eine Person durch kann, und wenn Mann und Weib sich einander begegnen, so müssen sie sich mit den Rücken nach den Mauern, und vorn einander drücken, bis jedes vorbey ist. Sie haben keine andre lebendige Natur vor sich, als sich selbst, und der Mensch ist ihr täglich und stündlich Geschäft. Ihre Leidenschaften können nicht zerstreut werden, und concentrieren sich meistens in Liebe, weil wenige reisen, und Schiffarth treiben. Es wird denn hier auch geliebt, so sehr es der Mensch nur aushalten kann.«[8] Er weiß einiges über das berüchtigte Hurenwesen der Stadt zu berichten und war empfänglich für die Schönheit der Prostituierten:  »Die Venezianerinnen sind gewiß reizende Geschöpfe und ganz gemacht zur Wollust. All ihre schönen Gesichter haben etwas brennend süß gefälliges, und äußerst feines; besonders sind ihre Nasen schön, so wie bey den Römerinnen die Augen. Die Form ihres Gesichts ist meistens länglicht. Sie haben eine sehr zarte Haut und ein blühend Kolorit, weil sie nicht in die Sonne kommen. So bald sie nur einen Jüngling ansehen, scheint eine bräutliche Schaamröthe um ihren Mund herum in einem wollüstigen Lächeln aufzugehen, als ob man sie schon vor dem Bette halb entkleidet vor sich hätte. Alles stimt auch bey ihnen auf den Hauptentzweck, die Wollust, bis auf ihre Gondeln, die die vollkommenste Lage zum bequemsten Genuß anbieten; einen weichen Polster für den Hintern, der den Wollusttheilen völligen Raum und alle Freyheit läßt, und zwey Bänke daneben, die Beine darauf auszubreiten. Jeder Ruck des Gondelführers mit dem Ruder ist ein Wolluststoß. Es ist das größte Unglück für sie, daß das Venerische Uebel hier eingedrungen ist, wofür sie sich nicht hüten können, und welches in der gesalzenen Luft gräuliche Verwüstungen anrichtet, besonders an den Nasen; und man sieht eine Menge ohne dieselben herum gehen.«[9] Merkwürdig ist, daß er die Frauen wie ein Gemälde nach Kolorit oder Endzweck beurteilt, und daß er sich ihnen wohl auch wie einem Gemälde genähert hat: nämlich mit einigem Abstand. Offensichtlich recht zeitraubend hat er sich in jener anderen Festung, dem Viertel der »mamole« genannten Freudenmädchen, dem »Castelletto« beim Rialto, herumgetrieben: »Die Huren in Venedig sind Commerzartikel, und man schämt sich gar nicht zu ihnen zu gehen, oder welche zu halten.« Und er berichtet, wie wohlgestalt der Stadtstaat Venedig dies zu seinem Vorteil eingerichtet hat: »Jetzt sind sechszig Posten, jeden verkauft die Republik mit achtzig Zechinen, und er bleibt alsdenn bey dem Hause, so lange bis Niemand darin ermordet wird, oder andre Umstände den Rath nöthigen, den Posten zu versperren, und die Fenster mit eisernen Gittern zu verschränken. Der Hausherr bezahlt hernach alle halbe Jahr elf Zechinen an die Republik. Dafür darf er denn in einem Zimmer eine Hure halten, und sie muß ihm allezeit die Hälfte vom Gewinn geben. Er beköstigt dieselbe, und giebt ihr eine Magd zur Aufwartung, für Kleidung, Frisur und alles andre muß sie selbst sorgen. Was die Venerische Krankheit betrift, muß er hierbey auf seinem eignen Vortheil denken, und seinen Posten in keinen üblen Ruf kommen lassen. Wie schnell dieß abgewechselt werden muß, kann man leicht dadurch sehen, daß in dem Eckzimmer al ponte dei Assassini in einem halben Jahre allein funfzehn Mädchen nach und nach deßwegen abgeschaft wurden. Die wohlgebildeten haben ihren Posten im zweyten Stock, und stehen oder sitzen im Fenster worin aber nie Glascheiben seyn dürfen, um ihre Zimmer zu unterscheiden. Sie bekommen etwas mehr, und man giebt ihnen gewöhnlich vier Lire. Für eine ganze Nacht bekommen sie das Doppelte. Die andern sitzen vor den Hausthüren, und deren Tax ist auf zwey Lire gesetzt. Wenn die Mädchen hier einmal eingestellt sind, so dürfen sie nicht heraus, und in Gondeln ihre Wirthschaft treiben. Sie müssen immer allert und bey der Hand seyn, und niemals verdrüßlich. Bey den säuberlichern trift man allezeit Contons an, ob sie gleich scharf verboten sind, und bezahlt ihnen für das Stück drey Lire. Sie sind meistens sehr naiv, und erzehlen einem leicht ihre Lebensgeschichte mit allen Umständen, wo die erste Entjungferung einen Hauptartikel ausmacht. Auch sind sie übrigens gut zur Unterhaltung, und gewitzt und gewürfelt durch den mancherley Umgang mit verschiedenen Menschen, wo sich allezeit die Natur bis auf ihre geheimsten Theile sehen läßt. Man geht oft zu ihnen zum bloßen Zeitvertreib, und läßt sich ihr Nackendes zeigen, wo ein Künstler die Schönheit der einzeln Theile gut studieren kan; denn es giebt doch unter ihnen eine Menge reizender Gestalten, die sich überdieß Monat und Vierteljahrweise abändern. Und außerdem braucht man sie mit ihren Erzehlungen z.B. von der Verschiedenheit der männlichen Zeugungsglieder, und Arten die Wollust zu genießen, wie eine Pucelle d´Orleans, oder ein ander witziges Buch. Um dieses Vergnügen zu haben muß man aber schon Stoiker genug seyn, um sich wenigstens nicht so plump einzulassen, daß man das Venerische Uebel an Hals bekäme.«[10] Der Hurengang als Anatomiestunde, die Adligen als eine Bande von Zuhältern, das sind Dinge, die einiger Gewöhnung bedürfen. Heute sind Bordelle in Venedig verboten.
     Der Stadt wenig abgewinnen konnte Johann Gottfried Seume, er war von empfindlicherem Gemüt als der kühlbetrachtende Heinse: »Das Traurigste ist in Venedig die Armuth und Betteley. Man kann nicht zehn Schritte gehen, ohne in den schneidensten Ausdrücken um Mitleid angefleht zu werden; und der Anblick des Elends unterstützt das Nothgeschrey des Jammers. Um alles in der Welt möchte ich jetzt nicht Beherrscher von Venedig seyn; ich würde unter der Last meiner Gefühle erliegen. [...] Die niederschlagendste Empfindung ist mir gewesen, Frauen von guter Familie in tiefen, schwarzen, undurchdringlichen Schleyern knieend vor den Kirchenthüren zu finden, wie sie, die Hände gefaltet auf die Brust gelegt, ein kleines hölzernes Gefäß vor sich stehen haben, in welches die Vorübergehenden einige Soldi werfen. Wenn ich länger in Venedig bliebe, müßte ich nothwendig mit meiner Börse oder mit meiner Empfindung Bankerott machen.« Im folgenden berichtet er von einer merkwürdigen Profession auf dem Markusplatz, wobei er sich von Heinse auch darin unterscheidet, daß er über Genuß und Vergnügen nie das Elend der Leute vergißt.: »Drollig genug sind die gewöhnlichen Improvisatoren und Deklamatoren auf dem Markusplatze und am Hafen, die einen Kreis im sich her schließen  lassen und für eine Kleinigkeit über irgend eine berühmte Stelle sprechen, oder auch aus dem Stegreife über ein gegebenes Thema theils in Prose theils in Versen sogleich mit solchem Feuer reden, daß man sie wirklich einige Mahl mit großem Vergnügen hört. Du kannst Dir vorstellen, wie geringe die Summe und wie erniedrigend das Handwerk seyn muß. Eine Menge Leute von allen Kalibern, Lumpige und Wohlgekleidete, saßen auf Stühlen und auf der Erde rund herum und warteten auf den Anfang, und eine Art von buntscheckigem Bedienten, der seinem Prinzipal das Geld sammelte, rief und wiederholte mit lauter Stimme: 'Manca ancora cinque soldi; ancora cinque soldi!' Jeder warf seinen Soldo hin, und man machte gewaltige Augen, als ich einige Mahl mit einem schlechten Zwölfkreuzerstück der Forderung ein Ende machte und die Arbeit beschleunigte. Welch ein Abstand von diesen Improvisatoren bis zu den römischen, von denen wir zuweilen in unsern deutschen Blättern lesen!«[11]
     Und auch Goethe verließ trotz der Palladiokirchen Venedig wieder äußerst »gern«.
     Das Gewühl, das fremdländische Labyrinth, Elend, Not, Macht und Herrlichkeit, Feigheit, klassizistische Kirchen und ärmliche Behausungen, Krankheit und adelige Pracht, die Gleichzeitigkeit des Gegensätzlichen, das Vielgestaltige, buntzusammengewürfelte Panoptikum, das alles ist charakteristisch für die Lagunenstadt, die nicht auf einheitlichem Grund errichtet worden ist, sondern auf zahllosen kleinen Inseln. Die Einheit dieser venezianischen Mannigfaltigkeit ist allzu trügerisch, denn in Venedig ist alles nur ein Zusammengesetztes. Die beiden Säulenfiguren der Piazetta geben den Ton vor: Der heilige Theodor ist eine Zusammenstümmelung aus dem Kopf des Hadrian, dem Rumpf eines Unbekannten der ersten nachchristlichen Jahrhunderte und den Beinen und einem Drachen aus dem dreizehnten. Der Löwe ihm zur Seite ist nichts als irgendeine chinesische Chimäre, der man Flügel angehängt hat. Ursprünglich aber war derart Zusammengesetzes immer der Darstellung des Teufels vorbehalten, nicht von ungefähr hatte er Ziegenfüße, Schlangenkörper, Krokodilszähne, Löwenklauen oder was weiß derselbige noch zum Attribut des Leibes, und vielleicht lags an dieser frankensteinschen Flickarbeit, daß zwischen den Säulen alles Übel erlaubt war, vom Glücksspiel über die Entleerung in den ehemals dort sich befindlichen Latrinen bis zur öffentlichen Hinrichtung.

Wie aber kam es, daß Venedig im Laufe der Zeit zum Sehnsuchtsort par excellence wurde? Zum Hort der Kunst, der Wiege der abendländischen Kultur? Daran ist vermutlich Petrarca schuld. Er hatte 1364 derart edel über die Stadt geschrieben hatte: »Die höchst erhabene Stadt der Veneter ist heute der einzige Hort der Freiheit, des Friedens und der Gerechtigkeit, die einzige Zuflucht der Guten, der einzige Hafen für die von den Stürmen der Kriege und Tyranneien geschüttelten Flöße all derer, welche gut leben möchten, eine Stadt reich an Gold, doch reicher noch an Ehre; stark durch Macht, doch stärker noch durch Tugend; beständig in Marmor errichtet, doch beständiger noch durch die Einheit ihrer Gemeinschaft; salzig sind die Wasser, die sie umfließen, doch sichert sie das Salz der Weisheit ihrer Bürger.«[12] Wer das las, mußte einfach glauben, der Idealstaat der Griechen lebte hier noch fort. Petrarca hat wahrhaftig prophetisch die Stereotypen des neoklassizistischen Traums  aufgezählt, die Erhabenheit, Tugend, Freiheit und Gerechtigkeit, die Macht der Guten, die Beständigkeit des Marmors, die Weisheit der Bürger. Der Ausbruch der Sehnsucht nach der Antike, etwa dreihundert Jahre später, hatte unmittelbar  mit Venedig zu tun. Das Interesse an den Alten wuchs gewaltig, nachdem Kreta 1669 nach zwanzigjähriger Belagerung als venezianische Festung gefallen war. Ganz Europa hatte teilgenommen an den verschiedenen Phasen des venezianisch-türkischen Krieges.[13] Sondermissionen wurden ausgeschickt, im Grunde, um den Verlust dessen zu erfassen, was einmal "unser" war. 1675-1675 reisten der Französische Arzt und der englische Naturforscher George Wheler nach Griechenland, um die antiken Denkmäler einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Es folgte 1751 die berühmte Reise der beiden Engländer James Stuart und Nicholas Revett, die von der Society of Dilettanti, einem mit antiken Dingen liebäugelnden Herrenclub junger Adliger finanziert und beauftragt waren, um die Denkmäler zu vermessen. Auf den Adel und ihre Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die die unübersichtliche Mehrheit der Menschen und ihrer bedrohlichen Vielfältigkeit ausschloß, waren die Bürger neidisch. Sie versuchten mit aller Art Ausschluß- und Vereinigungsstrategien, z.B. in Lesegesellschaften, Religionsgemeinschaften, Bünden aller Art, aber auch durch den intensiven Freundschaftskult einem dieser Adelsgesellschaft gleichwertigen Zusammengehörigkeits­modus zu finden. In Venedig erfüllten die sechs Brüderschaften der Scuole Grandi und andere Fraternitäten bereits länger einen ähnlichen Zweck. Sie waren einst als Gegengewicht zur Macht des Großen Rates gegründet worden, dem nur Adelige beitreten durften. Aufgrund ihrer Vermögen konnten sie namhafte Maler und Architekten in Dienst nehmen, und noch heute zeugen die Gebäude und die in großer Zahl darin untergebrachten Gemälde von deren einstiger Macht und Reichtum. Den zahlreichsten, nichtadeligen, allerdings auch nicht rein bürgerlichen und auch nicht anderen äußerlichen Merkmalen wie Beruf oder Nationalität beruhenden, sondern auf ein rein ästhetische Forderungen zurückgehenden Elitebund mit utopischer Ausrichtung gründete Johann Jakob Winckelmann. Mit Hilfe des schlagenden Syntagmas der edlen Einfalt und stillen Größe schuf er moralische und ästhetische Statuten für eine Gesellschaft, die ihre Gesinnungs- und Geschmacksgemeinschaft auf der Basis ästhetischer Vorlieben und anhand eines vermeintlich historischen Musters formte. Um so schlagend zu sein, mußte Winckelmann allerdings die Realität, und das heißt in diesem Falle, die der antiken Kunst, ein wenig manipulieren.  Es war  keineswegs nur das Schöne, das Stille, das Einheitliche, das moralisch Unfragwürdige in ihr zur Darstellung gekommen, aber um jedes verstörende Extrem zu vermeiden und dem Sehnsuchtstraum klare Konturen zu geben, mußte er wieder besseres Wissen behaupten, die »guten Griechen« hätten »überall das rechte Maß der Vollkommenheit [getroffen], gerad die Mitte zwischen Enthusiasmus und Kälte, die schönsten Linien von Umrissen.«[14] Das Schöne wäre Natur bei den Griechen gewesen, Lessing behauptet vorsichtiger, sie wäre Gesetz gewesen. Und deshalb durfte der Laokoon nicht schreien, weil dies in der Auswirkung zu häßlich gewesen wäre, sondern mußte still schweigen. Die ästhetisch-statische Norm der klassisch-körperlichen Ausbildung ist gleichzeitig ein steingewordenes Enchiridion der Moral. Und aufgrund dieser moralischen Anrufung des Betrachters sind die Statuen keinesfall so still, wie man erwarten würde. Die Masse der Statuen, die man in Venedig beispielsweise auf Kirchen, Palästen, Galerien und Scuolen findet — auf dem Venedigcapriccio Canalettos sind es trotz des beschränkten Bildausschnitts und aller Phantasie 61 — läßt ein wahres Statuengeplapper über den Menschenköpfen entstehen, ein andauerndes stummes Geschrei des Seht—wie—schön—wir—sind—und—so—müßt—ihr—auch—werden. Und in  dieser Heiligen-, Heiden-, Götter- und Engelrepublik können sich manche nicht beherrschen und man hört beinahe, wie sie sich in Form eines homerischen Möwengelächters über das häßliche, dem zeitlichen Untergang geweihten und elenden Gewimmel da unten lustig machen. Die Bewegungslosigkeit der Statuen, das Versprechen der Schönheit in aller unveränderten Ewigkeit wurde manchem zu öde. (Die beiden leeren Postamente auf der Bibliotheca Marciana läßt einen übrigens vermuten, daß es zweien der Statue mit der Zeit ebenfalls langweilig geworden ist und sie eines Tages einfach herabgestiegen sind.) Besonders Heinse hatte viel dagegen einzuwenden:  »Alle bloß bildende Kunst macht auch den stärksten Liebhaber und Besitzer über kurz oder lang zum Tantalus. Das schönste Bild, sei’ s auch eine Venus vom Praxiteles, wird endlich ein Schatten ohne Saft und Kraft, es regt und bewegt sich nicht und verwandelt sich nach und nach wieder in den toten Stein oder Öl und Farbe, woraus es gemacht war; und für den lebendigsten Menschen am geschwindesten. Ich glaube, daß wenn die goldnen Zeiten der Griechen länger gedauert hätten, sie endlich alle Statuen würden ins Meer geworfen haben, um des unerträglich Toten, Unbeweglichen einmal ledig zu werden.«[15] Als der Neoklassizismus im Achtzehnten Jahrhundert seinen Höhepunkt erreicht hatte, wurde es in den Glyptotheken Mode, die Statuen nachts bei Fackelschein zu betrachten, wenn das unsichere, flackernde Kerzenlicht den Anschein einer Bewegung hervorrief.
     Von solchem Zweifel an den klassizistischen Schönheitsnormen waren Palladio und Scamozzi noch weit entfernt. Sie wollten in Venedig den architektonischen Gesamtplan einer klassizistischen Polis realisieren. Aber sie scheiterten am praktischen Kaufmannsgeist der venezianischen Baumeister, die »ehrwürdige Praxis des Verstehens und Ausführens« behauptete sich über »die Kunst des universalen Wissens«, die die »Ursache der Dinge kennt«.[16] Doch zurück zu den Statuen. Herder hat die Plastik abstrakt umschrieben als »eine Physiologie der seligen Natur: eine körperliche Psychologie des Paradieses«[17] und umschreibt damit die utopische Tendenz der ästhetischen Theorien mit Rekurs auf vergangene vermeintlich ideale Zustände in den Kinderzeiten der Menschheit oder den eigenen. Die Verwirklichungsversuche der idealistischen Schönheitsträumereien endeten aber — die Weltgeschichte hat es schmerzhaft gelehrt — immer im realistischen Gegenteil: der Diktatur



Antonio Canal, gen. Canaletto: Rialto mit der Brücke nach dem Entwurf von Palladio und mit anderen palladianischen Bauwerken, nämlich dem Palazzo Chiericati und der Basilika aus Vicenza. (Parma, Galleria Nazionale)


der Häßlichen. Denn das Gebot zur Schönheit ist eines der Unfreiheit. Die Eskamotage des Häßlichen führt die Unmenschlichkeit nach sich. Vorgaben, Normen, Gesetze, Regeln machten Winckelmanns utopische Gesellschaft zu einer ästhetischen Diktatur. In gewissem Sinne ist die größte Barbarei aller Zeiten ebenfalls eine ästhetische Diktatur gewesen. Der verhinderte Schriftsteller Goebbels und der verhinderte Künstler Hitler fühlten sich der Schönheit verpflichtet und wollten das Häßliche aus der Welt bannen. Dafür mußten stellvertretend sechs Millionen Juden aus der Welt geschafft werden. Schöne Leiber sollten gezüchtet, schöne Städte gebaut werden, in denen eine Gemeinschaft edler, schöner, ausgewählter Menschen wohnen sollte. Winckelmann hatte unverschuldet, keine Phantasie geht so weit, nicht wenig Anteil an diesen Wahnvorstellungen. Aber auch bei ihm sollte alles schön werden, schön, rund, sauber, still, ohne Extreme, mittig gewissermaßen, leicht erfaßbar und deshalb überschau- und kontrollierbar und dazu lieblich wie die Jenseitsversprechungen der Zeugen Jeovahs heutzutage. Ist nun alles Schöne verdächtig und verlogen? Vielleicht! Der Klassizismus der Palladianischen Kirchen jedenfalls ist eine Fassadenschönheit. Rüde entlarven die Seitenwände der Paläste und Kirchen, marmorlos und oft von rohen Ziegelstein in scheunenhafter Schmucklosigkeit, die Schaufassade zur Hypokrisie. Die Unversehrheit, ein Kriterium für Schönheit des alten Thomas von Aquin, ist nur für den gegeben, der ein hoffnungsloser Myop ist.

Wenn allerdings das anarchische Grün des venezianischen Frühlings sich allerorten Herr macht, wenn jede kleine Ritze, jeder unversorgte Spalt von der Natur besetzt wird, dann wird aus dem Herrschaftstraum aus Palazzi und Kirchen ein Venedig gleich den Ruinenbildern des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts. Die Ruineneuphorie ging auf die Faszination zurück, die das Wechselspiel von Natur, in Form des überwuchernden Grüns, und Kunst, als massige, Macht und Dauer darstellende Mauern, auslöste. Die Kunst zeigte sich in den erhabenen Ruinen vergangener großer, gebildeter Zeiten als ewig und aller Bruchstückhaftigkeit zum Trotz unvernichtbar und die Natur offenbarte ihre ganze anarchistische Macht. Eine Pattsituation, bei der der Kampf zwischen den beiden Extremen endlich ausgekämpft war — auch das eine Utopie mit mannigfachem Stoff zum Träumen. Einer war darin ganz groß. der gebürtige Venezianer Piranesi. Piranesis Rom-Veduten waren gigantomanische Zeugnisse menschenverachtender Macht und vergangener Grösse im Schattenspiel zwischen Licht und Dunkelheit, während Winckelmann, sein großer Gegenspieler, die griechische Antike die quietistische Darstellung ewiger Menschengüte in der schattenlosen Dauersonne sah, in der Monströsitäten kein Dasein hatten. Die Ruinen, Relikte der alten Welt, waren Objekte einer Sehnsucht, die ihre Ursache im Anstoß an der häßlichen Gegenwart hatte und auf ihre realisierte Stillung in der Zukunft hoffte. Ihre Bruchstückhaftigkeit gab genug Projektionsflächen für Wunsch und Phantasie frei. Doch wenn Rom für den adeligen, einzelkämpferischen Schlachtritter war, so ist Venedig — wie übrigens Amsterdam auch — für den besseren Bürger. Es ist platterdings das Rom des kleinen Mannes. Venedigs Gebäude sind lebendige, weil noch in der Nutzung sich befindliche Ruinen, und hat — wie Canalettos Gemälde zeigt — zu kapriziösen Phantasien geradezu herausgefordert. Wo nicht seltenes, aber bestimmendes Grün an die Vergänglichkeit dieser Herrlichkeit gemahnt, wie beispielsweise auf dem Markusplatz der Fall, so erfüllen die Tauben den Zweck, dieser »Stadt des scheinbaren Stillstandes«[18] Bewegung einzuhauchen Sie sind nicht nur die ewigen und sich stets verfielfältigenden Überbleibsel des alten Brauchs, am Palmsonntag von der Vorhalle der Markuskirche Tauben fliegen zu lassen, sondern Hilfmittel im Plan eines genialen Architekten. Ohne sie wäre der Platz eine Ansammlung statischer, unbewegter, kalter, toter Gebäudekomplexe. Sie bringen in das künstlerische Ensemble das Element der Bewegung und somit das Leben.

Die Erinnerung ans Paradies, den Trauer über dessen Verlust, so wie die Hoffnung, es einst wiederzufinden sind Grundmotive des Kunstgenusses wie für den Tourismus. Erinnerung ist einer antiken Sage zufolge und in der Phantasie des bizarren Architekten Jean-Jacques Lequeu der Anfang aller bildenden Kunst.[19] Grund fürs erste Bild war angeblich die Zeichnung des abschiednehmenden Geliebten gewesen, die zur Erinnerung in den Händen der Geliebten zurückbleibt. Die Zeichnung aber, die Kunst des festen, bestimmten, eindeutigen, keinen Zweifel zulassenden Konturs war die eingeschworene Kunst des klarheitsliebenden Klassizismus. Der Kontur war auch entschiedenes Beurteilungskriterium Winckelmanns für die blaßen, farb- und leblosen Marmorstatuen. Venedig jedoch war nie berühmt für seine Zeichen-, sondern für seine Farbkünstler gewesen: Veronese, Tizian. Harald Keller führt den Farbkult darauf zurück, daß die Liebe zur ungebrochenen Linienführung des Disegno in der venezianischen Kunst aufgrund der klimatischen Bedingungen der Stadt nie hatte heimisch werden können. »Ein Stadtbild, in dem alle geschlossenen Linien sich dem Betrachter in die Feuchtigkeit der Atmosphäre und ins Flimmern des Lichtes auflösen, konnte keine Pflegestätte des disegno in akademisch korrektem Sinne werden.«[20] Venedig ist die Stadt des Pittoresken, als dessen Charakteristikum der Theoretiker William Gilpin 1772 den »Geschmack am Unbestimmten« sah.[21] Uvedale Price in seinem Essay on the Picturesque (1794-98) verstand es als ein »Korrektiv des Erhabenen«, das gegen die Vereinheitlichungstendenzen des Klassizismus, die Verschiedenheit und den Drang zum Unvollendeten setzt.[22] Der kargen Linienästhetik des Klassizismus widersetzt es sich in der Liebe zur Farbenharmonie. Die Illusion beruht nicht auf genauester Abbildung, sondern auf der Zusammensetzung von einzelnen Bildelementen zu einem »tout ensemble«, das sich »offenbart als das Bildganze bestimmende und vielfältig differenzierte Akkordische der Farben in ihrer Buntnatur«.[23] Max Imdahl sieht im Primat des Kolorits den Ausdruck einer ausgeprägt subjektiven Welterfahrung.[24] Die begrifflich-objektive Eindeutigkeit der Linien löst sich auf im Dunst, der sich wie ein Schleier über die unentdeckbare Wahrheit der Natur legt. Seine subjektivierende Wirkung, darin dem Kolorit ähnlich, überdeckt eventuelle Widersprüche, Kontraste und Häßlichkeiten und bietet dem »Mahler [...] mancherley Lufteffecten; für den Philosophen aber, der bloß Klarheit sucht, ist er sehr verdrießlich.«[25] Klarheit hieße volles Mittagslicht, das keine Schatten wirft, aber die bevorzugte Tageszeit der Landschaftsmaler ist die Dämmerung. »Wenn ich ein Landschaftsmahler wäre«, rief Demetri in Heinses Ardinghello, »ich mahlte ein ganzes Jahr weiter nichts als Lüfte, und besonders Sonnenuntergänge. Welch ein Zauber, welche unendliche Melodien von Licht und Dunkel, und Wolkenformen und heiterm Blau!«[26]  Die zweckfreie, verspielte, dem Vergnügen verpflichtete  Arabeskenschönheit Venedigs widerspricht der zweckhaften, moralischen Ästhetik des Klassizismus. Sie gibt keine normierten Vorgaben mit moralischen Imperativen, sondern läßt dem Betrachter die Freiheit der Einbildungskraft. »Ich wollte, hier herrschte immer Sonnenuntergang, orangefarbener Sonnenschlummer, denn ich sehe Venedigs Zaubergeschichte stets in diesem Licht vor mir. Während der Nacht und bei Mondlicht ist Venedig das alte Venedig: das Venedig der Republik, das Venedig von Macht und Schrecken. Aber in orangefarbenen Sonnentälern ist es das Weltmärchen... «[27] Daß dieses Märchen auch heute noch Macht besitzt, den Träumen aus der Vergangenheit die Hoffnung der Zukunft zu verleihen beschreibt Joseph Brodsky. Auch er führt das auf den berühmten Dunst Venedigs zurück. »Im Winter erwachst du in dieser Stadt, vornehmlich am Sonntag, beim Läuten unzähliger Glocken, als vibriere hinter deinen Gazevorhängen ein gigantisches Teeservice aus Porzellan auf einem silbernen Tablett im perlgrauen Himmel. Du reißt das Fenster auf, und das Zimmer wird im Nu von diesem geläutbefrachteten Dunst draußen überflutet, der zum Teil aus Sauerstoff und zum Teil aus Kaffee und Gebeten besteht. Unabhängig davon, welche Art von Tabletten und wie viele du an diesem Morgen schlucken mußt, du hast das Gefühl, daß für dich noch nicht alles vorbei ist. Unabhängig davon, wie autonom oder wie sehr du verraten bist, wie gründlich und entmutigend deine Selbstkenntnis ist, du nimmst aus demselben Grund an, daß es noch Hoffnung für dich gibt, oder zumindest eine Zukunft. ([...]) Dieser Optimismus leitet sich von dem Dunst her; von dem Gebetsanteil daran, insbesondere wenn es Frühstückszeit ist. An einem Tag wie diesen nimmt die Stadt tatsächlich ein porzellanartiges Aussehen an, mit all ihren zinnbedeckten Kuppeln, die Teekannen oder umgedrehten Tassen ähneln, und den schiefen Profilen von Campaniles, die klimpern wie weggeworfene Löffel und sich im Himmel auflösen.«[28]

Venedig scheint Herrin über die Zeit zu sein. Ihre Anfänge gehen jenseits aller Erinnerung oder vielleicht sogar des menschlichen zurück. Venedig in seiner mannigfaltigen Ganzheit ist eine Ikone. Sie»erkannte sich selbst als eine wunderbare, geheimnisvolle Schöpfung, in welcher noch etwas anderes als Menschenwitz von jeher wirksam gewesen.«[29]Fluctuat nec mergitur. Ewige Jugend, doch, nein, halt ewiges Alter. Das Greisenhafte der Stadt erinnert an die Hinfälligkeit von Swifts unsterblichen Struldbrugs. Und wenn wir bei Swift bleiben wollen, so scheint Venedig der Insel Laputa, die hoch über der irdischen Welt schwebt, nur einen Zugang hat, und bei der man immerzu hofft, sie möge nicht abstürzen. Venedig ist ein Museum, Wunderkammer des menschlichen Geistes, worin sich sämtliche Sehnsüchte, Wünsche und Verlangen konzentrieren. Die Reisenden kamen und kommen mit vorgefaßtem Blick. Das merkt man daran, daß sich an jenen Flecke, von wo aus die Vedutenmaler einst und Fotografen von heute ihre Arbeit taten, die Touristen sammeln wie die Fliegen. Sie wollen jenen Blick haben, den sie von den Abbildungen kennen, dann sind sie es zufrieden, als ob sie ein eingebranntes Muster in sich mit der Realität zur Deckung bringen müssen. Sie laben sich am Alten, vergewissern sich durch die unterschiedslose Wiederholung der eigenen Unsterblichkeit, betrachten die Kunst der Stadt im Glauben, daß das darin vorhandene Schöne ohne Umwege in und auf sie überginge. Dem Lauf des Wassers hin geben sie sich hin, in der Hoffnung, es trüge sie geradewegs ins Paradies. Eros, die Sehnsucht nach leiblicher und geistiger Geborgenheit, treibt sie vorwärts.  Sie suchen sie in der intrauterinen Geborgenheit der katholischen Kirchen Venedigs, durch deren Pforten Reminiszenzen an die ehemalige Troglodytenexistenz säuglings- und frühgeschichtskundlicher Art auch den Ungläubigsten treiben, ist der Eintritt in eine Kirche doch gleich einer reintrauterinen Fluchtbewegung aus dem gleißenden Licht venezianischer Sommerhitze in das dunkle, samtige, geborgene Kircheninnere, worin die Orgel summt wie weiland Mutters Blutkreislauf. Möglich, daß bei Männern der Rücktritt ins intrauterine Dunkel mit Penetrierungsphantasien einhergeht, aber das ist auch nur eine etwas gewagte Vermutung, die nur vom Assoziationsrahmen des Beispiels genährt wird und die auch aus dem Grunde vermutlich grundlos ist, weil der Verfasser als Frau diese Vermutung anzustellen wohl kaum befähigt ist. Außerdem hatte Venedig ehemals ca. siebzig Parrochien und nahezu eine gleiche Anzahl an Kirchen. Da müßte jeder männliche Tourist, der doch ein wenig des christlichen Venedigs sich aneignen wollte, an plagendem Priapismus leiden.
     Das Paradies, welcher Art es auch immer sein sollte, ist eine fernliegende Annehmlichkeit. Die Griechen waren die ersten und letzten Kinder der Menschheit, die darin leben durften, glaubte man wenigstens. Venedig und alle Sehnsuchtsorte der Welt müssen zum Ersatze dafür herhalten. Betrachtet man es genauer, war und ist auch kaum ein anderer Ort der Welt für die »sentimental journey« geeigneter sein. Kunst und Architektur in überwältigender Fülle, der Ohrenschmaus in Form stets und allenthalben stattfindender Konzerte der Waisenhausmädchen — zumindestens früher — und der ein halb Jahr andauernde Karneval, bei dem alle peinigenden Standesgrenzen aufgehoben waren, denn die Maske stellte Bettler und Dogen auf gleichen Rang. In seiner räumlichen Beschränkung ist Venedig ein wahrer »hortus conclusus«, in dem man nicht darin verloren gehen kann wie in der großen weiten Welt und woraus das Böse durch Unzugänglichkeit ausgeschlossen ist. Das Paradies mag es auch heute noch vertreten müssen, doch mit der Elitebevölkerung der Edlen und Guten wie Winckelmann und andere Utopisten es sich erträumt haben, hapert es. Wollte man sich vor zweihundert Jahren durch Kunstgenuß und auch durch die Grand-Tour als Mann Welt und Geschmack erweisen und sich darin vom großen Haufen unterscheiden, so muß man feststellen, daß das in der venezianischen Realität von heute gründlich mißlungen ist, weil dieser Unterscheidung sich nun alle Welt unterziehen wollte, mit dem Ergebnis, daß der große Haufen jetzt hier ist.

»So wie eine Liebste an dem Ufer des Meeres ihren abfahrenden Liebhaber, ohne Hoffnung, ihn wiederzusehen, mit betränten Augen verfolgt und selbst in dem entfernten Segel das Bild des Geliebten zu sehen glaubt. Wir haben, wie die Geliebte, gleichsam nur einen Schattenriß von dem Vorwurfe unserer Wünsche übrig; aber desto größere Sehnsucht nach dem Verlorenen erweckt derselbe, und wir betrachten die Kopien der Urbilder mit größerer Aufmerksamkeit, als wie wir in dem völligen Besitze von diesen nicht würden getan haben. Es geht uns hier vielmals wie Leuten, die Gespenster kennen wollen und zu sehen glauben, wo nichts ist: der Name des Altertums ist zum Vorurteil geworden; aber auch dieses Vorurteil ist nicht ohne Nutzen.« Das sagt Winckelmann selbst zum Schluß seiner Geschichte der Kunst des Altertums. [30] Nur wer träumt, auch auf die Gefahr des Irrtums hin, kann Venedig schön finden, wer noch Wünsche, Verlangen und Vorstellungen hat. Aber von der Serenissima die Realisierung dieser Träume und Wünsche zu erwarten, da geht er fehl. Denn dazu sind Aktion, Handlung und Veränderung nötig — und davon hat Venedig nichts, wie die gesamte bildende Kunst überhaupt. Es dauert aber nicht lange, da kommen fast alle dahinter, daß »Venedig nichts weniger ist als eine Oper und ein Märchen schon gar nicht...«[31] Es ist kein Wunder, daß sämtliche Vedutisten, die den Ruhm Venedigs vor der Fotografie begründeten, Kulissen-, Opern-, oder Theatermaler waren: Canaletto, Marieschi, Piranesi, Bernardo Bellotto. In Venedig nur Tourist zu sein ist so, als ginge man in eine Oper, die ja Louis Couperus zufolge gar keine ist, kenne weder Komponist noch wisse man, was gespielt würde, ja schlimmer noch, als wäre man taub und käme nur der Kulissen wegen. Und für sie gilt, was in Heinses Beurteilung über die Winckelmannsche Auffassung der Kunst Antike galt: »Die Natur übt ihr Recht aus, und zeigt ihnen mit Gewalt, daß es doch nur eitel Träumery ist. Die beste Kunst ist ein bloßes Denkzeichen verfloßnen Genußes, oder Leidens, die dem Anschauer lediglich Anlaß giebt, sich das Ganze wieder vorzustellen und in sein Gedächtniß zurückzurufen. Mehr kann sie nicht leisten. Welch ein Abstand von Poesie und ihrer Gewalt über die Herzen!«[32]

Nach Venedig zu reisen bedeutet Regredieren, sich der Unmündigkeit der Reiseführerschaft zu überantworten und immerzu zu stammeln: »schön... schön... schön«. Doch irgendwann ist die schönste Brücke der Welt erst ein gespaltener Echsenrücken und dann nur noch wie für Heinse »weiter nichts als eine doppelte Treppe übers Wasser«.[33] Wohl dem, der nicht lange genug bleibt. Wie nach langer Bootsfahrt schwankt man, wenn man nach einiger Zeit im falschen, aber erquicklichen Paradies den festen Boden der terra ferma wieder unter den Füßen hat. War doch alles nur ein schöner, unwahrer, in seiner Verlogenheit wahrer Traum? Ein Traum, der einen nicht zu rühren, in Bewegung zu setzen vermag, wie es die Literatur, nicht nur nach Meinung Heinses durchaus könnte. Ein Traum, aus dem man unverändert wieder erwacht?
     Trotzallem seufzt man mit Heinse zum Abschied die Worte, die die Herzoge von Chartres beim gleichen Anlaß angeblich traurig geflüstert hätten: »Es ist nur Ein Venedig in der Welt.«[34]





 [1]  Johann Jakob Wilhelm Heinse: Werke, hrsg. von Carl Schüddekopf und Albert Leitzmann, Leipzig 1902-1925, Band VII, S. 190f. Im folgenden zitiert als Bandzahl/Seitenzahl.
 [2] Du wirst sagen, daß jene Menschen dies Götter erbaut haben. IV/24.
 [3] IV/25.
 [4] Hans H. Aurenhammer: Tizian. Die Madonna des Hauses Pesaro. Wie kommt Geschichte in ein venezianisches Altarbild, Frankfurt 1993, S. 48.
 [5] Marcel Proust: Die Entflohene, übers. v. Eva Rechel-Mertens, Frankfurt 1983, S. 295.
 [6] Louis Couperus: Reisimpressies, Amsterdam 1997, S. 83. (Übersetzung von mir.)
 [7] Multatuli: Max Havelaar, übers. v. W. Spohr, Minden 1903, S. 118.
 [8] VII/205.
 [9] VII/197.
[10] VII/209f.
[11] Johann Gottfried Seume: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802, Nördlingen 1985, S. 89f.
[12] Petrarca, Epistole (Briefe), A cura de Ugo Dotti Torino U.T.E..T., 1978. Übers. von Inka Schneider. Zitiert nach: Venedig, Köln 1996, S. 114.
[13] Fani-Maria Tsigakou: Das wiederentdeckte Griechenland, Bergisch Gladbach 1987, S. 15.
[14] Zitiert nach Heinse, VIII/1/519.
[15]  IV/184f.
[16] Lionello Puppi: Palladios und Scamozzis Pläne für Venedig: Chronik eines angekündigten Scheiterns, in: Venedig. Kunst und Architektur, hrsg. von Giandomenico Romanelli,, Köln 1997, Band 1, S. 340-361,  S. 361.
[17] Johann Gottfried Herder: Plastik, in: Sämtliche Werke, hrsg. v. Bernhard Suphan, Hildesheim/ New York 1967, Band VIII, S. 105.
[18] Jacob Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien, Berlin1928, S. 61f.
[19] vgl. dazu: Johannes Odenthal: Imaginäre Architektur, Frankfurt 1986, S. 88.
[20] Harald Keller: Die Kunstlandschaften Italiens, Frankfurt 1994, Zweiter Band, S. 781.
[21] vgl. Attilio Brilli: Als Reisen eine Kunst war. Vom Beginn des modernen Tourismus: Die Grand Tour, übers. von Annette Kopetzki, Berlin 1997, S. 58.
[22] vgl. ebd., S. 60.
[23] ebd.
[24] Max Imdahl: Farbe, München 1988, S. 65.
[25] VII/94.
[26] IV/205.
[27] Couperus, a.a.O., S. 85.
[28] Joseph Brodsky, zitiert nach: Europa erlesen. Venedig. Hrsg. v. Susanne Gretter, Klagenfurt 1997, S. 153f.
[29] Burckhardt: a.a.O., S. 62.
[30] Winckelmann: Geschichte der Kunst des Altertums, Darmstadt 1993, S. 393.
[31] Couperus, a.a.O., S. 83.
[32] VIII/1/494.
[33] VII/191
[34] X/91.