Eigene Texte No. 3 VERFALL (2012)

Erschienen 2012 für das Driesch Magazin, Thema: Verfall (vgl. Eintrag vom 9.12.2012.
Etwas bearbeitet.

Berlin im Herbst, oder: – Betrachtungen an der Schwelle des Alters

Meiner Zwillingsschwester zum 50.

Wer die Berliner Gemäldegalerie am Kunstforum betritt – das schönste, unbekannteste und unbesuchteste Museum der Stadt –, schwelgt. Und zwar in den berühmtesten Gemälden der Welt: Bilder von Raffael, Rembrandt, Dürer, Cranach, Vermeer, Rubens, Jordaens oder van Dyck. Die Augen grasen in Farben, die leuchten wie am ersten Tag. Machtlos scheint die Zeit an ihnen vorbeigeschlittert zu sein, trotzig wirken die Bilder und überheblich: Das Museum ist eine Raumblase, in der die Stunden ruhen. Jung sind und ewig jung bleiben die Gesichter auf den Gemälden. Der Betrachter, ins Inkarnat versunken, glaubt sich einer ähnlich unveränderlichen Ewigkeit versichert, bis ...
... bis plötzlich die Wärterin um den Türstock biegt: ein Wunderwerk an Farben, lila das hochtoupierte Haar, grellrot die geschminkten Lippen, puderweiß das Gesicht, schwarzumrandet die Augen, rougerosa die eingefallenen Wangen, der Rücken rund, die Schritte eckig, der Blick streng. In den Gesichtsfalten gesammelt der Satz der Zeit. Die in sich widersprüchliche Gestalt strahlt die Energie aus, die die alte Frau am Morgen aufwendete, um die Zeichen des Verfalls zu camouflieren. Doch unter den jugendlichen Schönheiten der Gemälde wirkt die patrouillierende Wärterin grell, als wäre sie einem Ensor-Gemälde entsprungen. Plopp! – – : Der Besucher erwacht aus Trug und Traum und Triumph der zeitüberdauernden Kunst und wird erfasst vom niederdrückenden Gedanken über die menschliche Vergänglichkeit. Er hat kaum noch ein Auge für die Kunst, lugt, linst aus den Augenwinkeln der Ensor-Wärterin hinterher, verstohlen, schämt sich des eignen Glotzens, wechselt den Saal. Erleichtert tritt er schließlich vor die Museumstür.
Berlin!
Viele Jahre erfreute sich nicht nur das touristische Auge an Häusern, die – vor allem im Osten – den Reiz des Fastverfallenen an sich trugen: Straßen, über deren Kopfsteinpflaster noch die Pferdefuhrwerke zu rollen schienen, Hinterhöfe, wo gerade das Echo der Hammerschläge früherer Werkstätten verhallt war, oder Barackengelände, auf denen jedes Auto seinen Verschlag und somit alles seine Ordnung hatte, Brachen voll lieblich blühender Wiesen, auf denen Nicht-Konformisten, denen die Karriere egal und das Leben lieb war, Liegestühle errichteten, Schlittenbahnen bauten, Abenteuerspielplätze oder Sommerminibauernhöfe. Bäume verschatteten die Straßen in Alleen, Gras und grün überall. Lücken, Leeren und Brachen machten das Atmen leicht in dieser Stadt. Unverputzte Brandmauern ragten hoch und höher...
... nichts da, Brandmauern sind hässlich, gehören verputzt, schon der Energieeffizienz wegen, und auf alle Brachen Townhouses! Eins wie’s andere. Als gäbe es nur einen Architekten oder ein zentrales Architektengehirn: Flachbedacht, gitterbewehrt, weiß, steril, sauber, eckig und tot. Hier wächst kein Leben mehr, hier soll – es ist platt, aber warum deshalb unwahr? – nur eins wachsen: Geld. Bald werden die Touristenbusse vergeblich in der Stadt herumirren auf der Suche nach einem unverputzten Haus, nach der letzten Falte der Stadt, die noch zeigen soll, wie es hier mal war. Berlin wird geschminkt, geliftet und geschönt – und die Geschichte gleich mit. Die Zeugnisse des ruinierten Kommunismus’ sollen entsorgt werden: Das Gerücht macht die Runde, dass das Ernst-Thälmann-Denkmal in Prenzlauer Berg Behausungen – es werden wohl auch Townhouses werden – weichen soll. Nun kann man am Sinn und Zweck von Denkmälern überhaupt zweifeln. Vielleicht sind sie ja überkommen, dienen der Verewigung eines sowieso Ganzverschwundenen, eines referenzlosen Nichts, dessen gegenstandslose Verehrung gelegentlich in einer Hausplakette gipfelt, die an einem niegelnagelneuen Gebäude verkündet: „An dieser Stelle stand…“. Wie soll man etwas verehren, wenn davon nichts mehr da ist? Und überhaupt: Warum verehren? Was hat das Alte, was den später Geborenen Achtung abringen soll? Warum immer diese Verherrlichung des Früheren?
Einfach gesagt, weil diese Sehnsucht sich endlos speist aus der Erinnerung an die Kindheit. Diese Kindheit will man in die Gegenwart retten und mit ihr das Gefühl der Geborgenheit und der Unversehrtheit. Das Alte versichert einen der eigenen Unsterblichkeit.
Im 18. Jahrhundert entdeckte man die Macht der Vergangenheit. Ruinen waren allgemein Objekte sentimental-eskapistischer Rückbesinnung, die so weit ging, nochexistierende Gebäude als zukünftige Ruinen zu antizipieren. Hubert Robert malte den Louvre als Ruine, Maarten Heemskerck den Petersdom, John Michael Gandy die English Bank von John Soane. Albert Speer wollte Hitler den Gefallen machen, auch in Tausenden von Jahren noch gut auszusehen, und plante, ihm mit der „Theorie vom Ruinenwert“ den Wunsch nach der „Traditionsbrücke“ zu künftigen Generationen zu erfüllen, indem er die Bauten gleich so errichtete, dass sie einmal prächtige Ruinen abgeben würden. Ruinen demütigen und weisen das Individuum räumlich in die Schranken, so dass es heulend neben dem Großen sitzt wie einst Füsslis Trauernder neben dem riesigen Fuß eines gestürzten Kolosses, und zeitlich, indem sie dem Betrachter den eigenen Verfall vorführen. Die intensive sentimentale Wechselwirkung zwischen dem Vergehenden und seinem Betrachter erregt melancholische Gefühle, Trauer, Wut, Müdigkeit, Stärke, Trost, Trotz, Überlegenheit und Hilflosigkeit und Spott. Im Zeitalter der Ruinenabbildungen, der Phelloplastiken, Follies und Capriccios, war eine Ruine jedoch nur dann etwas wert, wenn sie von Grün über- oder bewachsen war. Das Grün erzählt die Geschichte von der Übermacht der Natur über die Kultur, des Lebens über die Kunst, der Gegenwart über die Vergangenheit. Doch nur wo eine Lücke ist, ein Riss, eine Fuge, kann etwas ansetzen – Efeu zum Beispiel, aber auch Gefühl und Traum. Herrscht das Glatte vor, das Vollkommene und Ganze, dann finden Gefühl und Phantasie keine Ritzen, Risse, Fugen und Falten zum Einnisten. Halbzerstörtes gibt dem Betrachter die Freiheit, sich das ehemals heile Ganze vollkommener und prächtiger vorzustellen, als es jemals war. Angesichts von Ruinen lässt es sich prima phantasmagorieren. Und deshalb ist es kein Zufall, dass die berühmteste Statue der Antike auch die ruinierteste ist: der Torso vom Belvedere.
Der Anblick einer Ruine kanalisiert die Furcht vor der Zerstörung, die immer die kleine Schwester ist der großen Furcht vor dem eigenen Tod. Ruinen verleihen den Trost, dass die Zerstörung dieses eine Mal etwas Anderes getroffen hat, wodurch man für eine kleine Weile sicher ist vor dem Tod. Leider dauert diese Ewigkeit der Unversehrbarkeit nicht länger als die Betrachtung der Ruine. Und auch nur dann, wenn es nicht die eigene Ruine ist, deren Anblick man am Morgen im Spiegel aushalten muss. Während man beim ästhetischen Genuss der Bauruine einen Kontakt zur Vergangenheit knüpft, droht man beim unästhetischen Zwangsbetrachtung der eigenen Ruine gerade die Verbindung zur Vergangenheit zu verlieren, zum Kind, das man mal war. Der alte Mensch im Spiegel ist ein Fremder, denn das Eigenbild im Kopf ist und bleibt jung. Im Gesicht eines alten Menschen herrscht Unordnung, und Unordnung ist etwas, was man nicht unter Kontrolle hat. Das Alter geschieht mit einem. Es ist das Unordentliche, das Nicht-Glatte, das Nicht-Gerade: Falten sind krumm. Das Altern ist leibhaft gewordene Entropie, es strebt zur Unordnung, die sich nur noch unter Zugabe immenser Energie in geordnete Verhältnisse überführen lässt. Macht diese Ohnmacht den Hass auf das Alter und den Verfall aus? Ordnung in es hinein bringen zu wollen, kostet immens viel Energie und ist, die eingangs erwähnte Wärterin in der Berliner Gemäldegalerie beweist es, ohnehin vergeblich.
Lässt sich dem Verfall, Vergehen und Alter wirklich nichts Positives abgewinnen? Die Japaner tun es. Mit der Ästhetik des wabisabi. Wabisabi ist in der Zen-Philosophie „die Verkörperung der Leere aller Dinge im Kosmos und sucht Schönheit in der Unvollkommenheit, die zu Tage tritt, während alle Dinge, die sich in ständigem Fluss befinden, sich aus dem Nichts heraus entwickeln und in das Nichts zurückkehren“, sagt Andrew Juniper in seinem kleinen Buch Wabi Sabi. Negativ umschrieben bedeutet wabisabi so etwas wie elende Trostlosigkeit, positiv gedeutet aber ist wabi das Vermögen zum einfachen, nicht aufs Materielle ausgerichteten Leben, frei von der Bezogenheit auf das eigene Ich, während sabi steht für die in wehmütiger Trauer sich hingebende Akzeptanz der Vergänglichkeit. Der Zen-Gelehrte Daisetz Suzuki behauptet, ich zitiere nochmals Juniper, dass „Sabi ein Sehnen nach jener Welt ist, die wir als Kinder zurückgelassen haben“. Bedeutet wabisabi dann, sich nach der Kindheit zu sehnen und Kraft zu ziehen aus der Gewissheit, diese nie mehr zurückholen zu können?
Der Herbst ist ein langsames Vergehen, man behauptet oft, er sei golden. Man stelle sich vor, die Blätter an den Bäumen würden binnen eines Tages einfach trocken und fielen ab? Und das Licht, es würde nicht sanft, sondern bliebe hochsommergrell, bis andern Tags plötzlich der kaltgraue Winter vom Himmel fällt? Es wäre nicht zum aushalten. Ist das Menschenalter(n) vielleicht auch so ein Übergang, auch so gemächlich, golden – nur dass es keiner sieht? Und vielleicht haben auch wir Menschen einen neuen Frühling nach Herbstverfall und Wintertod – nur dass es keiner weiß?
In einem Bericht über das neue Bauen war neulich zu lesen, dass alte Gebäude in der Energieeffizienz erheblich besser abschneiden, als man erwartet, weil ihnen noch die gespeicherte Energie des Aufbaus innewohnt: die graue Energie. Diese Energie setzt sich beim Verfall also frei? Geschieht das auch beim Altern? Löst sich die Energie von gelebtem Leben?
Ich gehe recht oft in die Gemäldegalerie am Kunstforum, und möchte noch öfter gehen diesen Herbst, weil Pläne bestehen, es zu schließen. Man möchte mehr und man möchte junge Besucher anlocken und die Sammlung alter Gemälde in ein Museum der surrealistischen Moderne verwandeln. Es soll ein Event draus werden. Ein Teil der Gemälde aus dem Kunstforum wird ins Magazin wandern, ein Teil ins Bode-Museum. Sollte diese bedauernswerte Veränderung tatsächlich eintreten, hoffe ich, dass die farbenfrohe Wärterin mitwandern wird. Dann werde ich sie fröhlich begrüßen wie eine alte Bekannte.