Eigene Texte No. 4 Von der Gamma-Oszillation im Übersetzergehirn (2008)

2008 bat der damals noch so geheißene "Nederlands literair productie- en vertalingenfonds", heute: "Nederlands Letterenfonds", darum, über Funde, das heißt über diezufriedenstellende Lösung eines unüberwindlich erscheinenden Problems, zu schreiben. Dreißig der Einsendungen wurden zu einem kleinen Büchlein mit dem Titel "De vondst" zusammengefasst. Meine:


Von der Gamma-Oszillation im Übersetzergehirn

In der FAZ vom 29. April 2008 stand ein Artikel von Wolf Singer über die „Abenteuer unseres Bewusstseins“. Er sprach davon, was in unseren Gehirnen passiert, wenn wir für ein Problem eine Lösung finden. Singer schreibt: „Lösungen finden tut gut, denn es wird nach dem Auffinden einer Lösung ein Signal an die Belohnungssysteme geschickt, die das Heureka-Gefühl erzeugen.“ Und er fährt fort: „Mein Verdacht ist, dass der zentral-nervöse Zustand, den Meditierende herbeiführen, dem Zustand des Habens einer Lösung entspricht. Und das tut gut. Gleichzeitig werden die Inhalte, die im Bewusstsein aufscheinen, als passend empfunden. Es fügt sich alles zu allem, es herrscht Harmonie.“ Man untersuchte das Gehirn von Meditierenden während des Meditierens und entdeckte dann, wenn sie behaupteten, den Zustand des „klaren Geistes“ und des „starke[n] Gefühl[s] der Empathie“ erreicht zu haben, in der Hirnrinde eine Gamma-Strahlung mit großer Amplitude.

Ich hätte vielleicht andere Worte gewählt als „klarer Geist“ oder „starkes Gefühl der Empathie“, um das zu umschreiben, was ich empfand, als ich eine Lösung für das Übersetzungsproblem in Anneke Brassingas Gedicht „Heetboven“ suchte. Ich zerbrach mir den Kopf darüber, was ich mit „Heetboven“ eine rein Klangerinnerung an „Beethoven“ tun solle. Einfach mit „Heißoben“ zu übersetzen, das klänge idiotisch, und sollte ich mich aus Mangel einer Lösung gezwungen sehen, das Wort „Heetboven“ einfach stehen zu lassen, dann wäre meine Karriere als Lyrikübersetzerin rasch an ihr Ende gekommen. Doch instinktiv die Empathie nicht als Belohnung, sondern als Methode einsetzend, dachte ich mir: Wenn die Dichterin den Nachnamen des Komponisten verballhornen kann, warum sollte es mir als Übersetzerin verwehrt sein, dasselbe mit dem Vornamen zu tun? Wer meditiert schreit nicht Heureka, und wer am Übersetzerschreibtisch sitzt, auch nicht, und trotzdem wäre das äußerst passend gewesen: Aus „Heetboven“ wurde ohne Mühe und mit einem entrückten Lächeln stillschweigend „Wudlig“. Ich muss mich bei Wolf Singer bedanken, dass ich dieses Gefühl der Empathie, des klaren Geistes und der großen Empathie, das mich damals erfüllte, jetzt auch wissenschaftlich beschreiben kann: als Anfall einer Gamma-Oszillation mit einer großen Amplitude in meinem Gehirn.