Eigene Texte No.5 „Abenteuer und Meinungen beim Übersetzen von Wessel te Gussinklos De opdracht“ (1999)

Feldnotiz

„Abenteuer und Meinungen beim Übersetzen von Wessel te Gussinklos De opdracht“

„Es ist nicht artig und klug, seinem Leser die leichteren Einwände vorwegzunehmen.
Es ist sehr artig und sehr klug, seinem Leser zu überlassen,
die letzte Quintessenz unsrer Weisheit selber auszusprechen.“
(Friedrich Nietzsche: Zur Lehre vom Stil)

Der erste Satz von Wessel te Gussinklos De opdracht, den Autor und Übersetzerin am fortgeschrittenen Abend ihres ersten Zusammentreffens im Amsterdamer Restaurant Keyser's Bodega, als die Ober bereits tatenlos die Arme verschränkt hielten und die Mäuse ungestört auf dem Teppich tanzten, etwas mühsam aus der Erinnerung rekonstruierten, lautet: „Boomgordels en de onverhoeds uitwaaierende diepten van door bos omsloten weiland wisselden elkaar met eentonige regelmaat af, voortschuivend in zijn ooghoeken en in hun hypnotiserende herhaling, detailloos, gereduceerd tot weinig meer dan geometrische vormen.“ Kein einfacher Satz, schon deshalb, weil es im Deutschen den Baumgürtel gar nicht gibt, d.h. der achtbändige Duden zwischen Baumgruppe und Baumharz keinen Eintrag hat. Und wer will schon einen achthundertseitigen Roman mit dem Wort „Baumgruppen“ beginnen lassen? Die Übersetzerin mit diesem Problem alleinlassend, fährt te Gussinklo ungerührt in seinen Ausführungen fort, er hätte eigentlich statt der „weilanden“ der Wiesen, die „akkers“ der Äcker nehmen müssen. Der Klang hätte ihn dran gehindert. Der Klang – das leuchtet ein, aber von welchem „eigentlich“ spricht te Gussinklo?

ut pictura poesis
Hat man übers Übersetzen nicht nur nachzudenken, sondern auch zu reden, so klingt das meist derart vollmundig, als hätte man das Übersetzen selber erfunden. Was das Grundproblem betrifft, so bringt es Judith Macheiner in ihrem Übersetzerbuch lakonisch auf den Punkt: „... eine Übersetzung sollte dem Original weitestgehend ähnlich sein“. Die Frage stellt sie sich darauf wie von selbst: formal oder inhaltlich? Ich hätte stutzig werden müssen bei te Gussinklos erster Frage zur Tätigkeit meines Übersetzens: „Und, schreibst Du jetzt das Buch ganz neu?“ Was ich zunächst für Worte naiver Unkenntnis in Sachen Übersetzen hielt, stellte sich dann doch als durchaus ernstzunehmender Vorschlag zum allgemeinen Vorgehen heraus. Da der Übersetzer bekanntlich stets hin- und hergerissen ist zwischen der Treue zum Autor und der zu seiner Muttersprache, so nahm ich des Autors Wort für das Gottes und zerpflückte die Sätze, bis ich vor lauter Stückwerk saß. Nach welchen Gesetzen aber sollte ich diese je wieder zu einer Einheit zusammenfügen? Leidensgenossen früherer Zeiten hatten daraus schon einen Ausweg entdeckt, den man nicht zu Unrecht mit dem alten poetischen Grundsatz des ut pictura poesis umschreiben könnte. 1726 schlägt Joseph Spence in seinem Dialogue on Pope's Odyssey dem Übersetzer ein Gedankenexperiment vor: „Forming in one's Mind a Picture, from what is said; and considering how the Parts of it would agree, were they delineated upon Canvas.“ Und ähnlich bildhaft, barock, tizianisch bunt argumentiert Wilhelm Heinse (1746-1803), auch er u.a. Übersetzer; sein Resumée jahrelanger translationischer Plackerei lautete: „Beym Uebersetzen darf man die Worte des Originals platterdings nicht für etwas so wichtiges achten, sondern hauptsächlich auf die Bilder und Gedanken sehen, und sie in ihrer Schönheit und Stärke wieder geben.“ Und erklärt das ideale Vorgehen genauer: „Man erzählt wieder als ein Mann von eignem Charakter, was ein andrer nicht hören konnte; und nicht als Sklav und Kind, die auswendig lernen müssen, wenn sie etwas von ihrem Herrn zu berichten haben. Ein Uebersetzer muß gleichsam ein geschickter Abgesandter seyn.“ Bilder sind auch der Gegenstand in Nietzsches erstem Paragraphen seiner „Lehre vom Stil“, die Gesamtheit der Bilder eines Textes bildet den Stil, und der „soll leben“. Nietzsches Forderungen sind zwar keine Anleitung zum Übersetzen, aber: Wer über Sprache an sich schreibt, schreibt auch übers Übersetzen. Und deshalb mag es sich so mancher Übersetzer angelegen sein, was Nietzsche in seinem siebten Paragraph fordert: „Der Stil soll beweisen, daß man seine Gedanken glaubt, und sie nicht nur denkt, sondern empfindet.“ Nachdenken und nachempfinden sind das Gebot eben auch für den Übersetzer, denn achtens: „Je abstrakter die Wahrheit ist, die man lehren will, um so mehr muss man die Sinne zu ihr verführen.“ Und gerade das hat der Übersetzer als „Abgesandter“, wie auch Heinse ihn versteht, zu leisten.

oral rhapsody
Wessel te Gussinklos Literatur ist orale Literatur in einem ganz anderem als dem gewohnten Wortsinn. Er nennt seinen Stil selbst „rhapsodisch“. Te Gussinklo kennt seinen Nietzsche und vielleicht kennt er ja auch dessen dritten Stilparagraphen: „Man muß erst genau wissen: ‚so und so würde ich dies sprechen und vortragen’– bevor man schreiben darf. Schreiben muß eine Nachahmung sein.“ Schreiben als Mimesis des eigenen O-Tons. Te Gussinklo hat De opdracht nach eigenen Angaben erst diktiert, laut, wie man das so tut, bevor er die Bänder abgetippen ließ. Und vielleicht hatte er auch da schmerzhaft Nietzsches vierten Stilparagraphen vor Augen, in dem dieser erklärt: „Weil dem Schreibenden viele Mittel des Vortragenden fehlen, so muß er im Allgemeinen eine sehr ausdrucksvolle Art von Vortrage zum Vorbild haben: das Abbild davon, das Geschriebene, wird schon nothwendig viel blässer ausfallen.“ Dies im Gedächtnis, wundert man sich beim Lesen von De opdracht nicht mehr über te Gussinklos atemlose Sätze, das Eilen, Fliegen und auch Flanieren dieses Wortkaskadeurs mit seinem Brummton des... ja, des Radotierens manchmal, des Selbstverliebtseins, des Versunkenen, dessen, der vor sich hinsummt und im Leben nicht mehr damit aufhören will. Schreiben ist Sprechen, und bye-the-byes geben an, dass Gedanken Sprünge machen, Pausen ebenso, Atemlöcher und Haltetöne, der Wechsel von Flüster- und Schreistellen, Zungenschwere und Schnellgeratter etc. Und nun kehrt sich alles um, und man versteht jetzt Nietzsches fünften Paragraphen besser, der besagt: „Der Reichthum an Leben verräth sich durch Reichthum an Gebärden. Man muß Alles, Länge und Kürze der Sätze, die Interpunktionen, die Wahl der Worte, die Pausen, die Reihenfolge der Argumente – als Gebärden empfinden lernen.“ Wie wichtig das ist, weiß, wer Ewout, den jugendlichen Protagonisten des Romans, mit Gebärden hantieren und wild vor sich herumfuchteln sieht. Der Übersetzer muss durch Wörterwahl und -folge und mit Hilfe fliegender Partikel diesen pindarschen Sturz auch im Deutschen stürzen lassen.

Analysis of beauty
George Steiner behauptet, dass das Übersetzen ein „nach innen gerichtetes Gespräch“ sei. Und so ist der Übersetzer darauf gefasst, dass bei einem Redner wie te Gussinklo und bei diesem seinem Roman De opdracht, der in weiten Strecken ein einziger „monologue intérieur“ ist, fleißige Zungenübung erforderlich ist: Doch nun ist das Übersetzen an sich schon eine einsame Tätigkeit, und sie wird nur noch einsamer, wenn man dabei ohne ein Gegenüber laut vor sich hinspricht.
„Denke dran, es ist wie eine Symphonie von Beethoven“, hatte te Gussinklo mich gewarnt – also denke ich an Melodie, Dynamik, Tempo, Modulation, Rhythmus, Vokalharmonie, Stakkato, legato, glissando, Leitmotiv, Adagio und presto etc. etc. – te Gussinklo nennt das kurz: Raffung und Dehnung. „Was nicht musikalisch ist, existiert nicht. [...]“, erklärt er und fügt hinzu: „Sind Sätze häßlich, tragen sie keine Wahrheit in sich.“ Wahrheit ist also gleich Schönheit, womit wir wieder bei obiger Metaphysik angelangt wären. Aber wessen Schönheit hat hier zu gelten? Die niederländische oder die deutsche? Oscar van den Boogaard hatte einmal versucht, eines seiner Bücher selbst ins Französische zu übersetzen, sah aber rasch ein, dass das Unternehmen zum Scheitern verurteilt war. Der zweite Satz des Buches schon drohte im Französischen zu einem anderen zu werden als er es im Niederländischen war: „Ich bemerkte, daß ich dabei war, ein anderes Buch zu schreiben, weil es musikalischer klang.“
Doch wieder sehen wir in Gedanken Nietzsche den Zeigefinger heben, der uns in seinem neunten Paragraphen warnt: „Der Takt des guten Prosaikers in der Wahl seiner Mittel besteht darin, dicht an die Poesie heranzutreten, aber niemals zu ihr überzutreten.“ Zum verwerflich Letzteren ist man bei te Gussinklo nur allzuleicht verführt, denn sein Ton ist ein Gemengsel von unerhörter Grobheit und unglaublicher Zärtlichkeit. Doch wie immer lauern Gefahren noch weit perfider – zumindest für den Übersetzer. Es gibt da einen Umstand, den zu vernehmen keinem Niederländer eine Freude und den auszusprechen mir auch äußerst unangenehm ist, weil er keine Freunde verspricht: Für den Deutschen klingt das Niederländische, vor allem der etwas behäbigen Syntax wegen, ein bisschen wie: – Kinderdeutsch. Nun hatten schon Diderot und d'Alembert in ihrer Encyclopédie dargelegt, dass das eigentliche Problem des Übersetzens nicht im Unterschied der Wörter beider Sprachen liege, sondern in der Unvereinbarkeit ihrer Wortfolge. Und so sind es auch das auseinanderdriftende Stilempfinden, der unterschiedliche Geschmack beider Sprachen, die es so schwierig machen, zu bestimmen, was schön genannt zu werden verdient, und ein Übersetzen im Grunde unmöglich machen. So kann, um ein Beispiel zu nennen, der bei den Niederländern so beliebte (und auch von te Gussinklo weidlich eingesetzte) Nominalstil nicht ins Deutsche gerettet werden, weil die allgemeine Ersetzung von Tatwörtern durch Hauptwörter unweigerlich die Gefahr der von Ludwig Reiners in seiner Stilkunst als „Satzfäule“ bezeichneten „Hauptwörterkrankheit“ nach sich zöge. Die beklagenswerte „Hauptwörterei“ führte Reiners Ansicht nach wenn nicht zum Aussterben, so doch zum Sterben des Zeitworts. Nun aber ist die Hauptwörterei von te Gussinklo bewusst eingesetzt, die Häufung der substantivierten Wendungen bewirkt ein Schweben der Zeit, ein Einfrieren der Handlung, ein Verzögern und Zaudern, das viel Ähnlichkeit mit der filmischen Zeitlupe besitzt, wodurch die Handlung exemplarische Bedeutung erlangt und dem Leser mehr Zeit zur Nachempfindung von Ewouts Gedanken- und Bilderwelt zur Verfügung steht. Gäbe man te Geussinklos Nominalstil ungebrochen im Deutschen wieder, so empfände dies der deutsche Leser als stilistische Unart. Wem aber ist der Übersetzer mehr verpflichtet: dem Autor oder seinem Leser?

Bibelstunde der Reklamesprüche
Im vorliegenden Fall herrscht fluchwürdige Diskrepanz, nicht nur im Stilempfinden der beiden Sprachen Niederländisch und Deutsch, sondern auch in der scheinbar nur marginalen Diskrepanz im Geschlecht ihrer beider Vertreter. Es lässt sich nicht nirgendwo leugnen: De opdracht ist ein reines Männerbuch! Und zwar nach Autor, Inhalt und Form, in Wunschtraum und – ja, doch - Prahlerei. Das einzig Wahre wäre wohl, jedem Übersetzer den Autor zuzuordnen, dem er in Geschlecht, Wesen, Herkunft, Lebenslauf und Handschrift am ähnlichsten ist. Mich, um nur einen Aspekt zur Illustration zu nennen, kann man nur mit Wohlwollen nicht mager nennen, während te Gussinklo dagegen durchaus gerade einem prassenden Gemälde von Jan Steen entsprungen sein könnte. So heißt es also für due Übersetzerin üben, üben, üben, bis der Klangkörper leiblich, der Brustton tief genug und der Gang gemessen männlich ist? Sagt Nietzsche nicht im zweiten Paragraphen: „ Der Stil soll dir angemessen sein in Hinsicht auf eine ganz bestimmte Person, der du dich mitteilen willst. (Gesetz der doppelten Relation.)“? Und das bei einem Männerbuch? Die Franzosen waren in Stilfragen schon immer sicher, und so entschied Buffon: „Le style est l'homme même!“ Doch welcher „Mensch“ ist nun gemeint? Te Gussinklo oder ich, Mann, Frau, Leser, Leserin, Hörer, Hörerin, ach wer? Und zu den biologischen Problemen gesellen sich biographische: Wie sollte sich vereinbaren lassen, dass te Gussinklo in seiner Kindheit mit der Bibel und ihren Sprüchen fast erschlagen worden war, der Übersetzerin unsereins jedoch, zwanzig Jahre jünger, mit den Sprüchen und Versprechungen des Werbefernsehens großgeworden ist. Sollte ich auf meine Tage noch fromm werden? Bleibt also nur, so zu tun, als ob? Immer so tun, als ob? Wäre somit das Übersetzen reine Sprachschauspielerei? Und wie sollte ich mich in die Psyche und Sprachkompetenz eines Vierzehnjährigen einleben? Apropos, wie redeten Halbwüchsige der fünfziger Jahre überhaupt miteinander? Wer schimpft zum Beispiel wen und weswegen ein „uitslovertje?“ Mit dem „Streber“ ist es nicht getan, und ein „klootzakje“ mit „Arschloch“ wiederzugeben, bedeutet ebenfalls, sich im Ton zu vergreifen. Und was sagte ein Junge damals, wenn er an Hand an sich legte – dazu kann ich doch wohl kaum meinen Vater befragen? Fluchen müsste man können – und das noch anachronistisch! Würde ich „venijnige jakhals“ brav übersetzen mit „bösartiger Schakal“, so könnte man hinter Ewouts Verurteilung seines Lagerfeindes ein grzimekhaftes, stimmgequetschtes Interesse für Zoologie vermuten. Greife ich aber in die Wortkiste daneben und nehme eine Beschimpfung, von der ich annehme, dass sie auch in den fünfziger Jahren bereits üblich war, und setze: „miese Ratte!“, so ist darin Ewouts geballte augenzukneifende Verachtung zu spüren – das hoffe ich zumindest. Doch dann vergehen kaum einige Seiten, da taucht der Schakal wieder auf, und wer sitzt nicht neben ihm?–: Die Ratte! Da ich aber aus dem Schakal in einer für mich überzeugenden Weise eine Ratte gemacht hatte, konnte die Ratte ja nicht Ratte bleiben. Doch was sollte aus dem Tier bloß werden? Ich entschied: nichts! – wollte ich nicht sämtliche Tiere im Buch postadamitisch neu benennen müssen. Also habe ich die Ratte einfach unter den Schreibtisch fallen lassen. Ein Wort mehr oder weniger, kommts darauf an? Der Überschuss beim Übersetzen vom Niederländischen ins Deutsche ist eh beträchtlich: Das Original von De opdracht umfasst sehr sehr viele Normseiten, die Übersetzung wird noch mehr haben. Ist somit die Differenz von ca. 100 Seiten dann ausschließlich mein Zutun? Das wäre wenig lobenswert, sagt doch Walter Benjamin, dass der zu mitteilsame Übersetzer ein schlechter Übersetzer sei. Und Hans-Georg Gadamer fügt der Diskussion die Forderung hinzu, eine ernsthafte Übersetzung habe klarer und flacher zu sein als das Original. Klarer, das leuchtet ein, aber flacher? In te Gussinklos De opdracht ein Ding der Unmöglichkeit, denn nie nachlassende Hauptschwierigkeit dieses dickleibigen Text ist der feine ironische Ton im Spielraum des kaum messbaren Hiatus zwischen dem solipsistisch berichteten Ereignissen eines Vierzehnjährigen und der für diese protestantische Beichte verwandten Sprache. Deren Maß ist von dem doch schon längst erwachsenen Autor für den jugendlichen Inhalt des Romans bewusst ein paar Nummern zu groß gewählt wie es Charlie Chaplin bei der Auswahl seiner Hosen tat. Wer aber hätte geschmunzelt, gelacht, sich köstlich amüsiert und im Humor Erkenntnisse gesammelt, wären Chaplins Hosen maßgeschneidert gewesen?

Der falscheste aller Freunde: das Wörterbuch
„Le style c'est le diable“, behauptet Paul Valéry. Für den Stil von Wessel te Gussinklo gilt das zweifellos. Die Unbestimmtheit der dauernden Nebelworte wie „vage, im Grunde, verschwommen, irgendwie, beinahe, als ob, fast, ziemlich“ etc. widerspricht der geforderten Sichtbar- und Deutlichkeit von Bildern, die präzise nachzuschildern Pflicht des Übersetzers ist. Warum, so fragt sich der Übersetzer, der ja immerzu interpretieren muss, warum macht te Gussinklo das nur? Glaubt er an die Pluralität von Welten – hinter jeder schimmert noch eine andere, mögliche hindurch – oder traut er einfach den Worten nicht? Will er die Arnoschmidtsche „Reicheallmöglichkeit“ zur Ehre verhelfen, die dann der Übersetzer mit spitzem Stift des allerletzten und bisweilen ratlosen Hermeneuten wieder zunichte machen muss? Stilfragen werden mit Weltentscheiden gelöst, und ich weiß nicht, ob die von mir transponierte Welt noch immer die von Wessel te Gussinklo ist. Der Teufel sitzt im Detail, denn das Übersetzen beruht fast durchweg auf Ad-hoc-Entscheidungen, und zwar Satz für Satz, unterstützt wird der Übersetzer nur von so verräterischen Helfern wie der von Judith Macheiner so gerühmten „stilistischen Intuition“, welche einen leider nur schmerzhaft oft im Stich lässt, und dem falschesten aller Freunde: dem Wörterbuch. Auf diese Weise habe ich am Ende meiner Tätigkeit einen Thesaurus vor mir liegen, in dem „kieskeurig“ mal mit „etepetete, erlesen, blasiert“ oder „unentschieden“ übersetzt wird, wobei die letzte Wortvariante zur inhärenten Bezeichnung dieses übersetzerischen Verfahrens überhaupt wird. Der originäre Stil ist eine ununterschiedene Totalität, gekennzeichnet vom Flugschwung poetischer Schwärmerei und Ekstase... ihm steht die buchhalterische Kärner- und Klauberei des Übersetzens gegenüber, die Stellenqual des Wort-Bruchs. Wie soll das zu einem guten Ende führen? Das Ergebnis ist immer ein Zwitter, ein Hybrid, ein Frankensteinsches Monster. Schon deshalb weil das Übersetzen immer einhergeht mit der Zerstörung der eigenen Sprache. Wie unter dem Einfluss eines verderblichen Virus löst sie sich auf, zerfällt und zerfahlt unter dem andauernden Einfluss der fremden Sprache. Und so fängt man aus reinem Überlebenswille der eigenen Sprache zuliebe an, immer lauter gegen das Original anzuschreien. Dass das Ende dieses Liedes dem Original immer unähnlicher wird, ist eine Tatsache, die zu bedauern oder zu begrüßen ich mich nicht entscheiden kann. Wilhelm Heinse fordert nicht umsonst: „Nur der mittelmäßige Kopf sollte treu seyn, wenn er ja von einem vortreflichen etwas übersetzen wollte; denn dann ists doch immer besser, als wenn er den vortreflichen affectiert.“ Und Nietzsche scheint mit seinem sechsten Paragraphen weniger te Gussinklo zu warnen, als seine Übersetzerin: „Vorsicht vor der Periode! Zur Periode haben nur die Menschen ein Recht, die einen langen Athem auch im Sprechen haben. Bei den Meisten ist die Periode eine Affektation.“ Ich bin mir der Gefahr der Affektation stets bewusst, sowohl beim Übersetzen wie beim Reden darüber: Sie ist mein wie der meisten Übersetzer Schicksal, denn die „vortreflichen“ sind gar rar gesät.

Die Metaphysik des Übersetzens?
In einem Interview spricht te Gussinklo vom großen Metyphysikum des Schreibens. Herrgott – und da soll ich das Übersetzen als bloßes Handwerk betrachten? Das „Eigentliche“ vom Anfang, die präpoetische Realität, kann nicht die Wahrheit sein, denn die Wahrheit ist, wie schon gesagt, die Schönheit. Pathetisch gesagt, sind Autor und Übersetzer dieser Wahrheit gleichermaßen verpflichtet. So sei dem Metaphysikum des Übersetzens gedankt, dass man sich bei seiner hieronymusschen Arbeit am einsamen Tisch einreden kann, man hätte ja – so still es dort auch ist – am Ende doch teil am großen, verborgenen Weltgeschehen! Nichts da. Das Gefühl des fortwährendes Scheiterns ist die einzige Gewissheit bei der Tätigkeit des Übersetzens. Unzureichende Vorläufigkeit ist das Stigma jedes transponierten Textes. Durchlebt also der Übersetzer ontogenetisch nochmals sämtliche Diskussionen der Übersetzungsgeschichte, ohne darin doch je eine Entscheidung treffen zu können, mit der er wirklich zufrieden wäre? Man muss tatsächlich für jedes Buch das Übersetzen neu erfinden. Bücher helfen einem dabei so wenig wie Theorien, Systeme, Institutionen, Lehrgänge und wohlmeinende Ratschläge. Der Übersetzer ist mit sich und seinem Buch allein – und einsam schließlich dann, wenn Kritiker sich über das Buch hermachen und den Finger in eine mürbe Stelle bohren.

(Die niederländische Version erschien in: - Veldnotitie: „Tegen het origineel aanschreeuwen“ [Zu Wessel te Gussinklos De opdracht], in: Filter, Jahrgang 6, Juni 1999, Nr. 2, S. 12-18)