Eigene Texte No.6: Anneke Brassinga auf Deutsch (2007)



Folgender Text ist 2007 auf Niederländisch erschienen. (Also schon wieder eine Weile her)

„Kijken door gebrandschilderde ramen. Anneke Brassinga in het Duits”, übers. von Pauline de Bok, in: Filter, Jahrgang 14, Nummer 4, Dezember 2007, S. 30-38.


 Hier das deutsche Manuskript:

Vom Schauen durch gemalte Fensterscheiben
Anneke Brassinga auf Deutsch

Die Frage, die sich mir beim Übersetzen immer stellt, ist die Frage nach der Empathie. Es ist auch die Frage nach der Geistes-Verwandtschaft zwischen Autor und seinem Übersetzer: So fragte ich mich einmal in einem Aufsatz über Wessel te Gussinklo, ob ich als Frau ein ausgesprochenes Männerbuch wie De opdracht überhaupt übersetzen darf. Angesichts der Gedichte Anneke Brassingas erhebt sich die Frage nach dem Geschlecht deutlich nicht. Gemeinsamkeiten gibt es auf oberflächlicher Basis einige wenige, so zum Beispiel die, dass wir beide Übersetzerinnen sind, oder jene, eher zufällig entdeckte, dass Brassinga wie ich als Kind immer ein Junge sein wollte. Doch die Unterschiede sind offensichtlicher: Brassinga schreibt und ich übersetze sie, Brassinga schreibt Gedichte und ich übersetzte solche bisher nie, ja, ich muss es gestehen, ich las sie nicht einmal. Zunächst war mir pubertierender Weltschmerz, wie er sich in Mitschülergedichten äußerte, verhasst, obwohl ich natürlich selbst an jenem litt, und Dichtung hat für mich seither immer etwas von diesem pickligen, aber süßen Weh behalten. Später strahlten Poeten und Poesieliebhaber für mich einen haut gout aus und reklamierten einen Aristokratismus für sich, der mir als erklärtem Humanisten und Demokraten immer verdächtig war. Nichtgedichteleser aber sind die Paria der Gelehrtenrepublik: Goethe nennt sie ‚verdrießliche Philister’, die vom Markttreiben blöde in die „heilige Kapelle“ der Poesie glotzen und dort nur Dunkelheit und Düsternis sehen. Enzensberger ist weniger human, für ihn sind Leute, die keine Gedichte lesen „eine kochende lache/ aus bockbier und blut! [...] beschissen von blei […] sprachlose fresser“ mit  „räudigen[,] hirn“ […] verräter[…] schmierige adler“[1] Doch nicht nur Biographisches trägt zu meiner bislanglebenslangen Distanzhaltung zur Poesie bei. Im Zuge der intensiveren Beschäftigung mit der Literatur waren es die grundlegenden strukturellen Unterschiede zwischen prosaischen Sprachkunstwerken und lyrischen, die mir den Zugang verwehrten. Während Romane dem Leser eine Weite gewähren – sei es die einer Steppe, einer Stadtlandschaft oder einer Seele  - , welche man mit eignem Leben füllen kann, kriegt man vom Dichter – so kam es mir vor – in Form von einer erdrückenden Fülle von Tropen, Allegorien, Metaphern, Gleichnissen etc. ein Puzzle vorgelegt, dessen Einzelteile nur auf eine ganz bestimmte Weise zusammengesetzt werden können. Der Dichter ist ein Gefängniswärter, der mir in der winzigen Zelle eines Gedichts die Freiheit nimmt: Kaum hat man diesen poetischen Raum betreten, schon ist man an seinem Ende angelangt. Man geht zum Ausgangspunkt zurück, liest das Gedicht zu Ende, fängt wieder von vorn an – und man kommt sich bald vor wie ein hospitalisierender Eisbär im Gehege. Für die Prosa dagegen gilt das pantha rei, beim Lesen wie beim Übersetzen. Prosa ist der  Alltag des Übersetzens, wodurch das Übersetzen von Poesie dann wohl die Sonntage sein müssen. Die prosaischen Werktage des Übersetzers – das ist – geben wir s doch zu – das Übersetzen meist schlechter, ich präzisiere schlechtgeschriebener Texte. – Und hier muss ich mich einmal kurz ausblenden und eine Anmerkung dazwischenfügen, die sich ganz besonders an die Übersetzungswissenschaftler richtet: Übersetzungstheorie handelt immer vom Übersetzen guter Literatur, wie Übersetzerpreise auch immer an Übersetzungen guter Literatur gehen. Ein Großteil aller Übersetzungen sind aber, wie gesagt, Übersetzungen von „schlechter Literatur“. Sollte man nicht mal einen Kongress, einen Workshop eben dieser Mühsal des Übersetzens zu widmen, die, wenn die Poesie die Sonntage ausmachen, wohl als die Montage des Übersetzens zu betrachten sind? Solch ein workshop wäre von großem Nutzen, denn jeder weiß, dass es viel schwieriger ist, ein schlechtes Buch gut zu übersetzen als ein gutes gut. Man könnte sich endlich mal laut austauschen über etwas, worüber man sonst nur mauschelt.
Doch ich blende mich wieder ein. Das Prosaübersetzen ist also ein horizontales Übersetzen, eines an der Oberfläche entlang, deren Vertiefung Textdurchgang nach Textdurchgang erfolgt, mit der Beständigkeit, mit der ein Bach sich sein Bett gräbt. Dieses letztere Bild gilt wenigstens für mich, der ich ein Immer-wieder-Überarbeiter bin im Gegensatz zu dem „Einmal, aber dann richtig“-Übersetzer. Bei der Prosa muss man in die Breite denken, Übersetzungsprobleme lassen sich oft durch die direkte, kohärenzenbildende Nachbarschaft von Worten lösen und selbstverständlich bisweilen auch durch den bloßen Fortgang der Handlung. Aufgrund der Masse an Stoff kann man vereinzelt verstohlen über ein Problem hinwegschraffieren, und wenn man Glück hat, liest ein übelwollender, schlechtgelaunter Rezensent drüber weg.
Im Gegensatz zur Prosa wird die Annäherungshaltung an die Poesie nicht durch Oberfläche und die Horizontalität bestimmt, sondern – schon bedingt durch die Kürze des Mediums – von der Vertikalität und damit von der Tiefe. Dies scheint auch Gaston Bachelard so empfunden zu haben, denn er sagt: „In jedem wirklichen Dichter kann man Elemente einer angehaltenen Zeit finden, einer Zeit, die sich der Meßbarkeit entzieht, einer Zeit, die wir vertikal nennen werden, um sie von der geläufigen Zeit zu unterscheiden, die horizontal mit dem Wasser des Flußlaufs, mit dem wehenden Wind dahinströmt.“[2] Abgesehen von der Enttäuschung nach diesem Zitatfund, die das Ergebnis meines persönlichen Paragones nun wenig originell erscheinen ließ, war ich überrascht von der Übereinstimmung der Wahrnehmungen, wodurch etwas Hoffnung aufkeimte, ich könnte mich dem Wesen der Poesie wenigstens intellektuell nähern. Die geläufige Prosa, bei der die Worte sich gegenseitig unterhaken und dschunkend schunkelnd sich einen schönen Fluss machen, hat ein derart unvergleichlich schlechteres Ansehen als die Poesie, die ontologisch, philosophisch, mental, emotional oder wie auch immer eben in die Tiefe führt. Klagen wir also mit Johann Jakob Wilhelm Heinse (1746-1803): „hier ists noch immer finster auf der Tiefe; Abgrund, wir versinken, und Abgrund! Ewigkeiten! Ewigkeiten! Kein Untertaucher, nicht die berühmtesten der Schulen von Syme vermochten zu entdecken.“ (Das ist, ich möchte es doch kurz erwähnen, in Prosa geschrieben, nicht im Flattersatz.) Zum uns allen wohl unbekannten Ort Syme erklärt er in einer Fußnote:  Syme ist das Vaterland der Untertaucher in der Levante, eine kleine Insel mit einer Stadt bey Rhodi, dem großen Magazin der Türkischen Seemacht. Niemand erhält das Bürgerrecht, ohne vorher Beweise seiner Geschicklichkeit im Untertauchen gegeben zu haben. Hernach werden sie in die Häfen weit und breit darum verschrieben, und untertauchen. Gleichsam Akademien und Hallen von Metaphysikern; nur daß sie bey ihrer auch gefährlichen Kunst glücklicher sind, und öfter verlornes ergründen und festpacken, als Plato und Leibnitz.“(Ardinghello, IV, S. 334) Die Dichter sind also, wenn wir die Jahrhunderte und die Bilder nun zusammenknoten, Philosophen, ja mehr noch glückliche Philosophen einer utopischen Gesellschaft. Müssen also diejenigen, die sie lesen und übersetzen, es ihnen nachtun? Nicht schwimmen, sondern die Luft anhalten und untertauchen?
Wie aber genau? Der Seufzer aus einem unserer Gedichte scheint, auch wenn es sich um eine andere Kopfübertätigkeit handelt, hier wirklich zupaß zu sein: „O, o krom te moeten gaan/ bij alle goten, dorstend, grondelend naar/ van al die morse eindjes het begin“ [uit: bukshag] Es ist, als lägen die Worte in einem Gedicht in stetigem Streit, rückten sich statt auf die Pelle von einander weg und kümmerten sich nicht um den Abgrund, der sich zwischen ihnen auftut. So wie bei einer weiteren Beispielzeile: „Prei, sterren, zonde, viooltjes of moord“ [uit: Pascal bezoekt Musée Cluny]. Es ist, als verrätselte ein Wort das andere böswillig nur. Man kann das zwar übersetzen, aber man hätte es doch auch gern verstanden. Poesie erscheint mir immer wieder sinndestruierend statt sinnschaffend, Zäsuren, Zeilensprünge, Zeugmata, Zwiste nähern den Zweifel nicht nur am Trugschlussvermögen des Dichters, sondern gleich an dem des Großgedicht- und Gesamtschöpfers dessen, mit dem wir uns tagtäglich herumplagen müssen. Manche nennen das ein Charakteristikum der Postmoderne, für mich ist es – ich meine meine Ansichten über das mangelnde Trugschlussvermögen des Dichters – ein Merkmal aller Poesie schlechthin. Und die einzigen Mittel, die – so sehe ich das wenigstens - dagegen helfen, sind Hoffnungsfähigkeit, kreatürlicher Übermut und Konzentrationsvermögen auf den Punkt – ja, und natürlich das Luftanhalten, bis nah ans Ersticken. Ein Gedicht, solange es kein Heldengedicht, keine Epopoe o.ä. ist, ist die im Bild gemordete Bewegung, hier herrscht stasis, keine dynamis. Und genau das macht einen eingefleischten Prosaübersetzer beim Gedichteübersetzen rasend. Dieses auf der Stelle treten. Dieses Nicht-vorwärts-Kommen. Dieses Grübeln. Grübeln. Und Grübeln. Und dann soll man dem Gedicht diesen Hirnkrampf nachher nicht mehr ansehen! Und er wächst. Was wächst? Der Hass auf den Autor, und die stetige Frage, warum dieser nicht einfach Bäcker geworden ist. Brassinga durchlitt als Übersetzerin ähnliche Frustrationszustände und erstellt einen „Spannungsbogen“ für das Übersetzen, in dem die verschiedenen Stadien des Verhältnisses zwischen Autor und zu übersetzendem Werk ihrer Erfahrung nach folgendermaßen ablaufen:

1)      verrukking en overmoed
2)      een aansluipend, al ietwat ontnuchterend besef van de complicaties
3)      het stroperige gevoel, verzwolgen te zijn door het karwei en de tekst die maar voortwoekert; een groeiende aversie tegen de auteur, die expres, lijkt het, zoveel mogelijk vertaalproblemen in zijn boek heeft gestopt
4)      explosieve woede over je eigen onvermogen
5)      een gestaag toenemende, lichtelijk koortsachtig, opgetogen energie.
6)      en een niet meerkunnen ophouden met het verfijnen van het tekstweefsel.[3]

Irgendwie scheint es jetzt wieder an der Zeit, die Unterschiede zwischen Brassinga und mir zu betonen, denn ich kann bei mir keinesfalls eine chronologische Abfolge der Stadien ausmachen, vielmehr sind stets fast alle gleichzeitig anwesend, 1 b) und 4 aber ständig.


II.
Poesie hat – für einen Prosaisten wie mich – weniger mit Literatur zu tun als mit bildender Kunst. Das Lesen eines Gedichtes ist durchaus vergleichbar mit dem Betrachten eines Bildes. Man steht davor, kneift die Augen zusammen, liest den Titel, tritt einen Schritt zurück, schätzt das eine, würdigt das andere Detail, Farbe, Form, Klang, alles ganz hübsch, aber ehrlich gesagt – ganz verstehen tut man es nicht. Das Gedicht als Bild, damit meine ich übrigens nicht nur jenes optische Bild der Phantasmagorie, die hinter dem Gedicht sich verbergende Idee, sondern auch das Bild von Klang, Silben und Vokalen, Symmetrien, Reihen, Wiederholungen, Kontraste usw. Ja, sogar der Einwand, es gebe doch die Lautgedichte, kann entkräftet werden mit der Ansicht, dass  zu jedem lautlichen Eindruck auch ein optischer gehöre. Wenn eine Gedichtzeile Ding-dong heißt, dann stellt man sich unweigerlich die dazugehörige hin und her schwingende Glocke vor. Und schließlich haben sogar Vokale eine Farbe, wozu mal nicht einmal ein Synästhetiker zu sein braucht.
Kein Geringerer als Goethe behauptete zudem: „Gedichte sind gemalte Fensterscheiben“.[4] Das von alters her gültige Kürzel für diesen Kurzschluss, Gedichte seien Bilder, ist das ut-pictura-poesis im 351. Vers von Horazens  Ars poetica. Ich habe mich schon früher einmal über die Funktion des ut-pictura-poesis beim Übersetzen ausgelassen, aber dort ging es um die Prosa, und ich forderte mit diesem Syntagma das „sinnliche“ Übersetzen allgemein. Hier aber geht es mir konkret um die geistige Verbildlichung. Das ut-pictura-poesis besagt, dass wie die Malerei die Dichtung sei, was Simonides paraphrasiert, indem er behauptet, „die Malerei [sei] eine stumme Poesie, und die Poesie eine redende Malerei“.[5] Horaz wollte damit die Ähnlichkeiten der Künste betonen, Dichtungstheoretiker wie Bodmer und Breitinger machten daraus ein Programm, was allerdings fatale Ergebnisse zeitigte. Im 18. Jahrhundert dichtete der Arzt und Naturwissenschaftler Albrecht von Haller sein berühmtes Gedicht „Die Alpen“.

Hier zeigt ein steiler Berg die Mauer-gleichen Spitzen,/ Ein Wald-Strom eilt hindurch und stürzet Fall auf Fall./ Der dick beschäumte Fluß dringt durch der Felsen Ritzen/ Und schießt mit gäher Kraft weit über ihren Wall./ Das dünne Wasser teilt des tiefen Falles Eile,/ In der verdickten Luft schwebt ein bewegtes Grau,/ Ein Regenbogen strahlt durch die zerstäubten Teile/ Und das entfernte Tal trinkt ein beständigs Tau./ Ein Wandrer sieht erstaunt im Himmel Ströme fließen,/ Die aus den Wolken fliehn und sich in Wolken gießen. [Albrecht von Haller: Die Alpen, (Reclam, S. 16, vs. 351ff.)]

Der Anschaulichkeit lässt dieses Gedicht keine Lücke offen, – aber so  wollte man schon im Laufe des 18. Jahrhundert nicht mehr dichten. Das Ende des Liedes ist, dass man als Leser heutiger Gedichte das Gefühl hat, Gedichte bestehen ausschließlich aus Lücken. Und doch: Beide Dichtarten verfolgen denselben Zweck, denn Haller moralisiert im Anschluss an die obige Passage: „Doch wer den edlern Sinn, den Kunst und Weisheit schärfen,/ Durchs weite Reich der Welt empor zur Wahrheit schwingt,/ Der wird an keinen Ort gelehrte Blicke werfen,/ Wo nicht ein Wunder ihn zum Stehn und Forschen zwingt, [...]“ Zu Zeiten, wo Theologie, Ontologie und die Naturwissenschaft für einen kurzen Moment noch eins sein konnten, wir sind in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, pflegte man den Trugschluss, die Totalität, wie sie hier durch die Beschreibung jedes Details zutage tritt, könnte erreicht, begriffen, reproduziert werden – und mit diesem ein einziger Sinn des Ganzen. Mit diesem Sinn aber ist in den Folgejahren auch die strukturelle Kohärenz abhanden gekommen. Das Wundern, Stehn und Forschen aber bleiben für den Aufmerksamen weiterhin Zweck, sie sind das, was Brassingas Poesie im Wesen ausmacht. Auch ihre Poesie ist „transformatie […] van informatie“,[6] ich würde sagen mit Hilfe von Sehhilfen, sei’s das Mikroskop oder das Fernglas oder der Zoom. Brassinga dichtete übrigens ebenfalls ein Gedicht mit dem Haller-Titel, allerdings in der Einzahl: „Alp“

De koe is groeiensmoe
zij loeit zo droef
op de veranda,
 de koe is moe
zij draagt er twee.

De boer slaat flank, hij roemt haar
boezeroen van vlees en wimpers
Donsoor trilt, neus snurkt roze
rauw, zij weent en roept
teloor in `t stille dal.

Het is niet groen, `t is wit.[7]

Während Haller also noch von einer gottgegebenen Ordnung ausgehen konnte, nimmt einem Dichter heute das keiner mehr ab. Das Tal ist weiß, eben nicht grün, wie man erwartet, und man erwartet wohl auch kaum eine Kuh auf einer Veranda, geschweige denn – eine Interpretation, die ich gar nicht zu Ende denken mag – eine Kuh mit zwei Eutern. Modernes Dichten ist, nach der Definition Brassingas, die Störung aller Ordnung, eine „ademende ordeverstoring“, die im Idealfall dem Tod trotzt.[8] Was aber dem Leser nur ein interpretatorisches Signal ist, daran beißt sich der Übersetzer die Zähne aus, eine gestörte Ordnung zu übersetzen kann einen verdammt mutlos machen.

III.

Eigentlich ist solches Dichten, das die Literaturwissenschaft ein modernes-postmodernes-poststrukturalistisches Dichten nennt, bereits  eingeleitet worden durch die schleichende Aufhebung der Rhetorik und ihrer Gesetze im 18. Jahrhundert als Folge des rasant um sich greifenden Skeptizismus. Doch hat die von rhetorischen Restriktionen befreite Poetik auch heute noch zum Wesen der Poesie einiges zu sagen und kann uns bei ihrer Ausübung behilflich sein. Des Aristoteles' poiein (Rhetorik 1411b 24-31) wird mit „anschaulich machen“ übersetzt und fordert von der Poesie als eidolopoiein, dem Hervorbringen (poiein) eines Bildes (eidolon), die Vorstellung vor dem Inneren Auge. [Aristoteles: De anima III. 3 428a 15-20). Vielleicht müsste man den griechischen Begriff heute besser mit geistiger Holographie übersetzen. Das Ziel jedenfalls ist es, den Hörer zum Betrachter zu machen, und zwar mit Hilfe der enargeia, die tunlichst nicht mit energeia zu verwechseln ist. Die enargeia ist die Anschaulichkeit, die Klarheit und Deutlichkeit, sie zielt darauf, das Wort mit der Sache wieder zu vereinen. Diese Identität ist zwar für die Dichter der modernen Zeit nicht mehr einzuholen, aber sie kann, und dies ist der Zweck des Ganzen hier, Aufmunterung für den stetigstrebenden Übersetzer sein. Diese enargeia, für den Übersetzer reklamiert, fordert nicht, vertalen wat er staat, sondern vertalen wat er geschilderd is.
Wenn Brassinga als das Verfahren ihrer Dichtung nennt, „mijn eigen in de geheugenruimte rondwarende beelden onder te brengen in taal“,[9]  dann paraphrasiert sie das genau dieses aristotelische Verfahren. Das bedeutet für den Übersetzer, diese Prozedur rückgängig zu machen und von der Sprache über die Bilder in den Gedächtnisraum des Dichters zu steigen – da wird mir jetzt allerdings doch etwas mulmig zumute. Ich habe in Anneke Brassingas Schädelraum nichts zu suchen. […] Man soll, so schreibt Brassinga irgendwo, als Übersetzer sich den Autor zu eigen machen, alles lesen, was er geschrieben hat etc. Das hieße rein theoretisch, sich seine Biographie zueigen machen, sich einzuleben, Schlüsse zu ziehen, Kausalitäten zu knüpfen, Küchenpsychologie zu treiben. Sie mag ja recht haben, aber irgendwie verbietet mir das Anstand und Etikette. Dann könnte, ja müsste ich über das „beschädigte Leben“[10] der Autorin reflektieren, auch über das von Oscar van den Boogaard, über Wessel te Gussinklo. Nein, das ziemt sich nicht. Gibt s einen anderen Weg der Identifikation? Meiner oben ausgeführten Ansicht nach ja: Vielleicht muss ich nicht zum Nacherleber werden, um zu glauben, Gedichte übersetzen zu können, vielleicht reicht es ja, obwohl dies auch schon sehr viel verlangt ist, zum Nachschauer zu werden. Doch setzt dies den Übersetzer wieder vor ungeahnte Schwierigkeiten. Denn einem Gedicht ein einziges Bild zugrunde zu legen, ist genau jenes Verhalten, das Poesie-Anfänger, Kinder, Naive, Konservative, Rationalisten, Faschisten und Totalitaristen prägt, der Glaube an die Referentialität und Sinngegebenheit von Kunst.
Und trotz dieser Einsicht, muss ich das Bild, welches, wie  ich glaube, das Gedicht darzustellen beabsichtigt, vor mir sehen können – und wenn mir dies nicht gelingt, dann scheitert die Übersetzung. So graut mir vor der Übersetzung des Gedichtes „Heidevreugd“, oder man nehme die erste Gedichtzeile von „Cellosuite BWV 1011 – Sarabande : „Zoals een arm mens watert in zijn hof over de netels/ opdat hun brandend loof verkwijnt zo ist dit neuriën/ zengend“ Ich habe die Sarabande rauf und runter gehört, aber ich seh den pinkelnden Menschen nicht vor mir. Liegt es daran, dass es hier um eine doppelte Verbildlichung handelt, die erste, die mit Hilfe der Musik von der Wirklichkeit abstrahiert, und die zweite, die diese mittelbare Wirklichkeit dann verschriftlicht und dabei nochmals verbildlicht? Das Ergebnis ist dann ein nicht ganz deckungsgleiches Doppelbild, ein Schielen also. Dagegen habe ich keine Schwierigkeiten, mir einen schlittschuhfahrenden Goldregen vorzustellen, ja, es gelingt mir sogar, keinen Goldregen mir vorzustellen.
Eine meiner Lieblingstheorien, die besagt, dass die Bildung des Individuums ein phylogenetischem Reflex auf die ontogenetische Kulturentwicklung aller Völker ist, bietet mir als Lösung an, die Faktizität von Fragmentarität, Nicht-Kausalität und Nicht-Linearität einfach stoisch hinzunehmen. Nun gut, dann konzentriere ich mich auf die Einzelbilder wie z.B. folgendes: „Vanaf het avondstrand is goed te zien hoe vlug/ je mindert – zo ijlings als het licht// je blote rug verlaat.”[11]. Ich ergötze mich also an diesen zwei Zeilen des Gedichts und hoffe, dass sich so manche Einzelbilder dann doch zu einer Art  Gesamtbild addieren lassen - und wenn nicht, dann auch gut. Als Übersetzer fuchtelt man also heftig mit Pinsel und Palette, mit Farben, Ölen und Firnissen, bosselt, schraffelt, feinmalert und hat am Ende natürlich doch wieder – ein Bild. So etwas wie ein Widerbild, mehr oder weniger dem Original ähnlich. Diesem Ähnlichkeitsverhältnis von Original und Gegenbild folgend ist eine Übersetzung also genau das, was das Mittel der Poesie schlechthin ist: eine Metapher. Die Übersetzung als Metapher des Originals, ehrlich gesagt, weiß ich noch nichts Rechtes anzufangen mit diesem Fund, und auch das wird der eine oder andere schon gedacht haben, aber es klingt schon mal gut. Meines Erachtens ist die Theorie von der Übersetzung als Metapher zutreffender als jene von der Übersetzung als Kopie. Davon kann im Verhältnis zwischen Übersetzung und Original wohl kaum die Rede sein. Schon ein Künstler des 18. Jahrhunderts sollte sich nicht mehr wie in den Jahren davor auf die Produktion von Kunst mit Hilfe eines seit Jahrhunderten unveränderlichen antiken Regelkodexes konzentrieren, sondern auf die Wirkung seiner Kunst. Lessing war einer von jenen, die diese Forderung stellten; erreicht werden konnte dies mit der enargeia, die die Grenze zwischen Malerei und Poesie aufheben sollte, wodurch die Poesie in ihrer Wirkung ideal sein konnte, wenn sie darin einem Gemälde glich. Reklamieren wir diese Forderung für den Poesie-Übersetzer, dann heißt das, und da bin ich schon wieder bei meinem Steckenpferd, dann heißt das, er muss sich vom Wort und seiner Bedeutung weg aufs Bild konzentrieren.

Doch bei aller Bildhascherei, die ich hier betreibe, ist auch Vorsicht geboten. Brassinga thematisiert selbst die Gefahr, zu sehr auf Bilder fixiert zu sein: Ihr Erwiderungsgedicht  „´Ik heb het rood van het joodse bruidje lief“ rückt das Gedicht von Peter Kemp: „Het rood van het joodse bruidje“ wieder gerade, indem sie die dortige Verliebtheit in das Gemälde in die richtigen Bahnen zurücklenkt, nämlich erotisch in eine Apologie des Lebens durch die Identifikation mit der Position des liebenden Bräutigams.

Für Brassinga ist es ein mythologisches Erlebnis, wenn sie in einer Mischung aus Verzweiflung, Anstrengung und Entspannung ein Übersetzungsproblem löst. Sie nennt es eine Epiphanie.[12] Es ist, wie wenn man bei Goethe durch die Kirchenfensterscheibe tritt: „Kommt aber nur einmal herein!“ lädt er ein und verspricht:“ Da ist’s auf einmal helle“. Nein, wir wollen jetzt nicht die mittelalterliche Lichtmetaphysik bemühen, sondern teilen einfach Brassingas Freude über eine geglückte Übersetzung. Das Glück des Gelingens, kommtselten genug vor und unterscheidet sich auch in den beiden Gattungen. Bei der Prosa entsteht sie durch die Dynamik, die Geschwindigkeit, Eleganz, bei der Poesie ist sie härter erkämpft. Das Poesielesen bzw. – übersetzen ist zwar auch ein Raum- und Weltenschaffen wie die Prosa – aber die Welt ist eine andere. Eine statische, zeitanhaltende – darüber können auch postmoderne Spielereien, nicht hinweghelfen. Und so ist es kein Wunder, dass die Lösung sich manchmal einfindet durch bloßes Starren.
            Da ich die Hoffnung auf das Gesamt-Bild eh aufgegeben habe, setze ich mir also das Lessing’sche Ziel: Ich werde auf die Wirkung hin übersetzen: Beispiel Heetboven aus „Frucht“ (Wachtwoorden). Was sollte ich mit Heetboven anstellen, das für den Deutschen keinerlei Zwischen-, Mit-, Um- oder Rückwärtsklang hat. Heissoben klang bescheuert, Heetboven zu lassen wäre ein Armutszeugnis, warum also nicht den Findungsakt der Dichterin nachvollziehen? Wenn sie den Nachnamen verballhornen kann, kann ich das mit dem Vornamen schon allemal. Also wurde auch Heetboven Wudlig. Und wer will kann außer etwas überdrehtem Mutwillen aus diesem Wu-d/t-lich  zwar nicht die Hitze der Orangenhautbekämpfung heraushören, dafür aber die Wut auf jene läppische anatomische Unzulänglichkeit als Gedichtinhalt oder aufs Übersetzen oder am Ende auf Tod, Teufel, Liebe und Vergänglichkeit. Eines aber drückt es sicher aus – und es rehabiliert vielleicht den mutlosen, glücklos erscheinenden Übersetzer ein wenig – : Übermut.

Und weil’s auf ein Bild mehr oder weniger nun auch nicht ankommt noch eins. Eins von Brassinga natürlich. Eins über das Dichten. Nijhoff lesend wird sie immer wieder mit der Entdeckung der Poesie konfrontiert „die te maken heeft met het tegen alle nog maar amper bevroede levenswetten in willen leren vliegen door wapperend met de armen de diepte in te springen, na het steeds opnieuw beklimmen van de trap, verlangend naar vereeuwiging van het moment dat pijnlike melancholie, lustvolle vermetelheid en vrije val samengaan“. [13] Die Tiefe, den Abgrund überwindend jetzt auch noch fliegen? Nein, nein, bei allem Übermut, das versuche ich erst gar nicht, da haut es mich Anfänger sicher auf die Nase. Ich bleib beim Klopfen an gemalte Fensterscheiben. Poch, poch, poch. – Vorerst …



[1] Hans Magnus Enzensberger:gedicht für die gedichte nicht lesen, Reclam:Theorie der Lyrik, S. 114f.
[2] Zitiert von: Olga Orozco:“Imaginäre Abenteuer der Poesie“, in: Joachim Sartorius: Minima poetica, Köln 1999, S. 23-30, ebd. S. 25.
[3] Anneke Brassinga: Het zere been, Amsterdam 2002, S. 215f.
[4]  Theorie der Lyrik, S. 110.
[5] Lessing: Laokoon, 5/2, 1990, S. 14. [Andere Quellenangabe für Simonides: Plutarch: De Gloria Atheniensium, Kap. 3.]
[6] Brassinga: Het zere been, S. 54.
[7] Anneke Brassinga: Wachtwoorden, Amsterdam 2005, S. 31.
[8] Brassinga: Het zere been, S. 89.
[9] Brassinga: Het zere been, a.a.O., S. 210.
[10] (Adorno-Minima-Moralia-Anspielung bei Sartorius (1999:11)
[11] uit Schoonheid (3)
[12] Brassinga: Het zere been, S. 212f.
[13] Brassinga: Het zere been, a.a.O., S. 183.